Carla Del Ponte, bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, über ihre Ermittlungen, die Fortführung des Tribunals und ihren einstigen Kampf gegen die Mafia.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Frau Del Ponte, Sie waren die berühmteste Anklägerin der Welt, seit März sind Sie im Ruhestand. Haben Sie einen Pensionsschock?Carla Del Ponte: Nein, ich halte Vorträge, an Universitäten in Basel, Genf. Es gibt ja nicht viele, die internationales Strafrecht aus der Praxis kennen. Aber heute beim Frühstück habe ich mir gedacht, ich muss aufhören, sonst wird das nichts mit dem Ruhestand. Ich will die Zeit schließlich genießen.
Fahren Sie noch Autorennen, wie früher mit dem Sportwagen auf dem Hockenheimring?
Ein Freund von mir hat sich einen neuen Porsche gekauft und wollte mich Probe fahren lassen. Da wusste ich: Das ist mir zu schnell, das war eine Sache meiner Jugend. Jetzt habe ich einen Volkswagen, musste allerdings schon Strafe zahlen wegen überhöhter Geschwindigkeit.
Hat Ihnen Ihr Mut zum Risiko geholfen, gegen Kriegsverbrecher wie den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević zu ermitteln?
Ich habe das nie als Mut empfunden. Ich habe mein Leben lang ermittelt und das durchgezogen. Natürlich musste ich kämpfen, aber das war kein besonderes Verdienst, eher großes Glück.
Verfolgen Sie noch, was am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geschieht?Ich interessiere mich sehr für "mein" Tribunal. Es sind ja noch meine Anklageschriften, die in den Prozessen zur Anwendung kommen.
Der angeklagte General Mladić, verantwortlich für das Massaker von Srebrenica, ist angeblich schwerkrank. Nehmen Sie ihm das ab oder glauben Sie, er will sich vor der Verantwortung drücken?
Nein, die Jahre auf der Flucht haben ihm schon sehr zugesetzt. Das habe ich mehrere Male erlebt. Als Zdravko Tolimir, Offizier der bosnischen Serben, verhaftet wurde, hieß es, der liegt im Sterben. Aber jetzt geht es ihm gut, auch Mladić hat die besten Ärzte, genießt die beste Pflege, die er je hatte. Ich hoffe, dass er bald zu Wort kommt.
Denken Sie, dass er aussagen wird?
Irgendwann reden alle. Die Prozesse dauern sehr lange, und die Angeklagten können sich nur schwer zurückhalten. Das Erstaunliche an der Strafprozessordnung ist, dass sie schwören, die Wahrheit zu sprechen. Die, die ich erlebt habe, haben alle gelogen, dass sich die Balken biegen. Aber das gehört dazu, das sind Kriminelle.
Sie sagten einmal, Sie hätten Milošević dafür bewundert, wie er Zeugen befragte.
Er wusste, wie er sich als Präsident in Szene zu setzen hatte. Die Opfer waren einfache Leute, sie hatten Angst vor ihm. Das hat er ausgenützt. Die hohen serbischen Beamten wiederum kannte er alle, in der Befragung hat er gezielt ihre Glaubwürdigkeit untergraben. Milošević hatte mehr im Kopf als andere, deswegen ist er so weit gekommen. Solche Leute können ihre Fähigkeiten im Guten wie im Schlechten entwickeln. Milošević hat sich für das Schlechte entschieden.
Wie war das, als Sie von seinem Herztod in der Gefängniszelle erfuhren?
Ich werde mich immer an diesen Anruf erinnern, es war der 11. März 2006. Ein Samstag, ich war gerade im Tessin. Ich war wütend. Wegen der Opfer, mir kamen sofort die Mütter von Srebrenica in den Sinn, wie sie seit Jahren Gerechtigkeit forderten, und nun war alles umsonst. Persönlich war ich natürlich auch wütend, weil ich mein fast fertiges Plädoyer in die Tonne treten konnte.
Aktueller Fall Libyen. Können Sie verstehen, dass Leute ihren Diktator lieber lynchen als vor ein internationales Gericht zu bringen?
Das bereitet mir physisches Unbehagen. Das hatte ich schon bei Ceauşescu, als er nach fünf Minuten Prozess exekutiert wurde. Gaddafi haben sie noch schneller erledigt, gefangen genommen und getötet. Man hätte ihn zu den Fakten anhören, ihm eine Verteidigung gewähren müssen. Zumal Gaddafi bis vor kurzem noch überall als Staatschef empfangen wurde. Gewalt ruft immer nach neuer Gewalt, sein Tod ist ein herber Rückschlag für die internationale Justiz.
Was halten Sie davon, dass seinem Sohn Saif in Libyen der Prozess gemacht werden soll?
Ich kenne die libyschen Verhältnisse nicht, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass so schnell eine unabhängige Justiz zusammenkommt. Am besten wäre es, wenn er nach Den Haag käme, dann wären wir sicher, dass sein Recht auf Verteidigung gewahrt bleibt. Das wird nicht passieren, Europa wird keinen Druck ausüben, niemand wird das.
In einem Aufsatz zitieren Sie Robert Jackson, den amerikanischen Ankläger bei den Nürnberger Prozessen. Er sagte, dass "nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden".
Dieser Satz fasst alles zusammen, was ich denke. Wir müssen strikt dem Gesetz folgen, als Staatsanwälte dürfen wir uns keinen Fehler erlauben, niemals.
Ist Jackson ein Vorbild für Sie?
Nicht direkt. Die Prozesse von Nürnberg kennen wir aus der Schule, aus den Filmen, ich durfte auch einmal in diesem Gerichtssaal einen Vortrag halten, was mich sehr bewegt hat. Aber meine Vorbilder sind eher Leute, mit denen ich zusammengearbeitet habe.
Als Sie noch Staatsanwältin in der Schweiz waren, haben Sie an der Seite des Mafia-Jägers Giovanni Falcone ermittelt.Es ging um die Geldflüsse der Mafia. Ich habe in der Schweiz Bankkonten blockiert, Falcone hat in Palermo ermittelt. Er hatte ein immenses Wissen über die Mafia. Eine Einvernahme verlangt ja immer eine Analyse des Gesamtbildes. Später war das mein Ehrgeiz im Jugoslawien-Tribunal, das historische Ganze zu kennen, bevor man Einzelne einvernimmt.
Es heißt, Falcone konnte wie kein anderer die Bosse zum Reden bringen.
Falcone hat nie die Fassung verloren. Ich selbst bin sehr aufbrausend, vor allem wenn ich Beweise habe, dass der Angeklagte lügt. Da haben Sie anfangs Geduld, und irgendwann reicht es. Bei Falcone habe ich mir abgeschaut: Ruhe bewahren. In den unzähligen Einvernahmen ist er nur ein einziges Mal laut geworden. Diese Ruhe hat auch mit Respekt zu tun, das spürt der Beschuldigte. Wenn Sie ihn von oben herab behandeln, geht gar nichts.
1994 haben Sie in Palermo einen ganz Großen verhört, den Mafiapaten Totò Riina.
Das habe ich nicht aus Ehrgeiz getan, sondern weil wir im Tessin sechs Millionen Dollar in einer Milchkanne gefunden hatten, die ihm gehörten. Bei der Einvernahme hat mich Totò Riina nur beschimpft, mit einer ganz hohen Stimme. Daran musste ich denken, als ich später in Den Haag Milošević vor mir hatte. Der hatte dieselbe unangenehme Art. Wobei sich Riina nach dem Verhör scheinheilig bei mir entschuldigte, typisch Mafioso. Milošević hat das nicht getan, aber ich habe mir eine kleine Genugtuung gegönnt, indem ich das Gespräch abbrach und zu den Justizbeamten sagte: "Führt ihn ab!"
Sie entkamen in Italien knapp einem Sprengstoffanschlag, in Belgrad wurde auf Sie geschossen. Haben Sie mitgezählt, wie oft Ihr Leben im Laufe Ihrer Karriere in Gefahr war?
Das ist bedeutungslos. Am Anfang hatte ich Angst, vor allem, nachdem Falcone 1992 von der Mafia ermordet worden war. Ich fürchte mich schon lange nicht mehr! Ich weiß, wie ich mich bewegen muss und ich bin sehr fatalistisch. Wenn es sein muss, dass ich sterbe, dann ist es halt soweit.
Hatten Sie je Angst um Ihren Sohn?
In der Grundschule war immer ein Polizist dabei, in der Ferne, mein Sohn hat es gar nicht gemerkt. Das Gute war, dass mein Sohn nach der Scheidung den Namen seines Vaters trug und nur die engsten Freunde wussten, wer er ist. Wenn ich gearbeitet habe, war er bei seiner Oma oder beim Vater, er ist sehr unabhängig geworden.
Als er mit 16 durch Spanien reiste, war ich einmal groß in allen Zeitungen, und ein Freund fragte ihn: "Del Ponte aus der Schweiz, kennst du die?" Und er sagte: "Nein, nie gehört"!
Wir sitzen in einem Hotel in Zürich: Sie kamen einfach allein hereinspaziert. Wie ist das, nach all den Jahren, mit Bodyguards und Eskorte?
Ich genieße es, mich frei bewegen zu können. In Den Haag wollte ich einmal Rad fahren, weil das dort alle tun. Ich saß also auf dem Rad, hinter mir die Eskorte. Als ich rechts abbiegen wollte, ist der Polizist hinter mir gerade aus gefahren und wir sind kollidiert. Im Wagen gab es dann nicht einmal Verbandszeug.
Was war Ihr größter Erfolg?
Dass in Den Haag 161 Personen angeklagt und 161 Personen verhaftet wurden, auch wenn man Mladić und Karadžić erst nach meiner Zeit fasste. Auch kleinere Dinge waren ein Erfolg. Als Staatsanwältin in Lugano konnte ich einen Mord an zwei Tankwarten aufklären, der seit sieben Jahren ungelöst war. Der Täter war Deutscher, ich hatte Glück, er saß wegen einer anderen Sache in Zürich in Haft.
Ihre größte Niederlage?
Der Tod von Milošević war die größte Enttäuschung, das wird mir immer nachhängen.
Würden Sie heute etwas anders machen?
Im Großen und Ganzen nicht. Ich würde öfter im Gerichtssaal sein, weil ich das gerne mache. Und ich hatte zu wenig Zeit für meine Mitarbeiter, weil ich ständig durch die Weltgeschichte reisen musste. Als ich letztens in Den Haag war, haben viele gesagt: Prosecutor, come back! Das hat mich gerührt.
Als Sie 1994 Bundesanwältin der Schweiz wurden, haben Sie sich nicht so viele Freunde gemacht. Sie nahmen die Banken ins Visier.
Ich habe immer gesagt: Wenn ein Rechtshilfeersuchen aus dem Ausland kommt und Steuerhinterziehung dort strafbar ist, müssen wir kooperieren, um unser Bankgeheimnis zu schützen. Man hat mich behandelt wie eine Vaterlandsverräterin. Als dann vor zwei Jahren die Steuer-CDs auftauchten und die Schweiz international unter Druck geriet, konnte ich mir Schadenfreude nicht verkneifen. Andererseits bin ich traurig, weil ich das Schweizer Bankgeheimnis retten will. Jetzt ist es zu spät.
Es klingt seltsam, wenn Schweizer um den "Finanzplatz Schweiz" bangen, der oft ein Synonym für Geldwäsche und Steuerhinterziehung ist.
Damals sagten die Bankiers zu mir: "80 Prozent des Geldes, das wir verwalten, ist hinterzogen, wie sollen wir Rechtshilfe leisten?" Heute ist das nicht mehr so, gerade bringen viele Italiener ihr Geld in die Schweiz, offiziell, weil es hier sicherer ist. Wichtig ist, dass unsere Banken es gut verwalten.
In dem Hörbuch "Carla del Ponte erzählt" erwähnen Sie Ihre Tätigkeit als Scheidungsanwältin in den 70er Jahren. Wie war das?
Ich hatte mit meinem damaligen Ehemann ein Rechtsanwaltsbüro, er machte Wirtschaftssachen, ich die Scheidungen. Ich habe mich sehr mit den Frauen identifiziert, habe gekämpft, dass sie gut rauskommen. Das sprach sich herum, ich hatte sehr viele Anfragen und habe so viel verdient, wie in meinem ganzen Leben nicht mehr. Irgendwann war mir das aber zu langweilig, immer dieselben Geschichten von treulosen Männern und unglücklichen Ehefrauen.
Könnten Sie jemanden wie Milošević verteidigen?
Niemals. Ich habe auch immer die amerikanischen oder englischen Kollegen gefragt, die in ihrem System ja zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung springen können: "Wie könnt ihr nur?" Zudem wäre ich eine furchtbare Verteidigerin. Bei den paar Mandaten, die ich als junge Juristin hatte, ging ich mit den Akten ins Gefängnis und sagte zum Beschuldigten: "Hier sind die Beweise, gestehen Sie!" Bei Gericht wusste ich nicht, was ich sagen soll. Ich habe immer den Staatsanwalt beneidet und gehofft, eines Tages an seiner Stelle zu stehen.
Als Chefanklägerin in Den Haag haben Sie durchgesetzt, dass Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen geahndet werden. Wie wurde das aufgenommen?
Die Kreuzverhöre waren eine Tortur für die armen Opfer. Im Ruanda-Tribunal sagte eine Frau aus, die sieben Mal vergewaltigt wurde. Die amerikanischen Spitzenverteidiger des Angeklagten haben dann auf demütigende Weise aus ihr herausgebracht, dass sie sich zwischen den einzelnen Vergewaltigungen nicht waschen konnte. Wir haben das beanstandet, doch die Richter haben über die Fragen sogar gelacht.
Ist es jetzt besser?
Heute beschützen die Richter die Zeugen, und es gibt einen vollamtlichen Psychologen für die Opfer nach der Verhandlung.
In Ihren Memoiren "Im Namen der Anklage" steht, Sie seien "eher eine Schlangenjägerin als eine Rechtswissenschafterin". Was hat es damit auf sich?
Als Kind habe ich mit meinen drei Brüdern Giftschlangen gefangen, die wir in der Stadt für 50 Franken verkauft haben. Unser Hund hat die Schlangen aufgestöbert, wir haben sie mit einem Stock mit einer Schlinge daran am Hals geschnappt und in einen Sack gesteckt. Was ich damit sagen will: Ich bin jemand, der zupackt, keine Theoretikerin.
Klingt gefährlich.
Wir hatten immer Serum dabei. Einmal wurde der Hund gebissen und wir gaben ihm eine Spritze. er war ein paar Tage sehr schwach und meine Mutter wusste nicht, was los war. Die Schlangen haben wir in einer Glaskiste unter dem Bett meines Bruders versteckt, bis ich mit dem Zug nach Lugano zur Klavierstunde gefahren bin. Einmal haben wir eine kleine Ratte in den Käfig getan, das war furchtbar, wie die Schlange die Ratte getötet hat.
In dem Film "Sturm" von Hans-Christian Schmid sagt die Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals . . .
Ein guter Film. Wobei ich lachen musste, dass die Chefanklägerin die ganze Zeit alleine herumspaziert und ermittelt. Das wäre unmöglich!
Jedenfalls sagt sie im Film: "Ich interessiere mich nicht für Politik, ich bin für die Anwendung des geltenden Rechts verantwortlich." Stimmen Sie zu?
Naja, man braucht die Politik, um Zwangsmaßnahmen zu erreichen, um Zugang zu Archiven, Akten zu bekommen. Das Heikle daran ist, die Politiker so weit zu bekommen, dass sie einem helfen, ohne sich von der Politik vereinnahmen zu lassen.
War das nicht unangenehm?
Im Gegenteil, es war sehr angenehm. Zu angenehm. In den Verhandlungen wird einem stets das Blaue vom Himmel versprochen, nur Folgen hat es nie. Einmal kam ich bei Chirac heraus, ein hilfsbereiter Politiker und phantastisch mit Worten. Ich dachte, ich muss sofort nach Den Haag, in einer Stunde wird Mladić verhaftet. Passiert ist natürlich gar nichts.
Sie sagten einmal, Sie seien gegen eine "Gummimauer" gerannt.
Deswegen würde ich nie in die Politik wollen. Ich habe aber auch gute Erfahrungen gemacht. Madeleine Albright etwa war direkt und verbindlich, genauso wie der deutsche Kanzler Schröder und Joschka Fischer. Fischer war überhaupt der intelligenteste Politiker, den ich je kennen gelernt habe. Seine Auffassungsgabe und seine Schärfe in der Analyse waren erstaunlich, schade, dass er nicht mehr Minister ist. Das letzte Mal, als ich ihn traf, stand eine Schüssel Kekse auf dem Tisch - und er hat sie alle aufgegessen, alle! Ein anderes Mal hat ihn einer meiner Bodyguards begleitet. Als der zurückkam, war er total erschöpft und sagte: "Ich war gerade mit Fischer joggen!"
Gab es Momente, in denen Sie am liebsten alles hingeschmissen hätten?
Vor allem abends, wenn ich müde war. Ich sagte mir dann, wenn es mir am Morgen noch immer so geht, dann muss ich etwas tun. Aber nach sieben, acht Stunden Schlaf war ich wieder die Alte.
Viele Juristen sind sehr kunstsinnig, um dem Schrecklichen, mit dem sie zu tun haben, etwas entgegenzusetzen.
Ich bin selbst erstaunt, wie wenig emotional ich betroffen war. Einige Mitarbeiter sind weggegangen vom Tribunal, weil sie es nicht ausgehalten haben. Mich hat es nicht angegriffen. Ich hatte auch keine Zeit dazu, man kann sich kaum vorstellen, wie viel Arbeit das war. Nach acht Jahren wollte ich einen totalen Bruch.
Sie wurden dann Schweizer Botschafterin in Argentinien, einem Land mit einer grausamen Vergangenheit.
Das Land ist sehr schön, die politische Lage ist stabil. Natürlich hatte ich dort auch mit Staatsanwälten und Universitäten zu tun, ich habe Militärcamps besucht, in denen die Verbrechen passierten. Und ich habe die Mütter der Plaza del Mayo wiedergetroffen. Ich kannte sie schon aus der Schweiz, als Bundesanwältin hatte ich mit Bankkonten aus Argentinien zu tun. Insofern bin ich auf meinem Gebiet geblieben.
Sie sagten einmal, Staaten, in denen Verbrechen geschehen sind, müssen ihre Vergangenheit vor einem internationalen Gericht aufarbeiten, sonst scheitern sie.
Die Zivilbevölkerung muss die Fakten akzeptieren, wie sie sind. Sonst kommt es zu einer Verdrehung der Tatsachen, zu einer doppelten Geschichtsschreibung, zu Revanchismus. Der Ort, um diese Wahrheit ans Licht zu bringen, sind die internationalen Gerichtshöfe. Das Jugoslawien-Tribunal war in dieser Hinsicht ein Meilenstein.
Was ist das Ziel? Weltgerechtigkeit?
Es gibt eine gewisse Gerechtigkeit, aber Weltgerechtigkeit? Das ist eine Utopie. Ich werde sie jedenfalls nicht erleben.
Verena Mayer, geboren 1972 in Wien, lebt als Journalistin und Autorin in Zürich und ist ständige Glossistin im "extra" ("wien/zürich").
Zur Person
Carla Del Ponte wurde 1947 im Schweizer Kanton Tessin geboren und studierte internationales Recht. Ab 1972 arbeitete sie in einer Rechtsanwaltspraxis in Lugano, 1975 gründete sie ihre eigene Kanzlei. 1981 wurde sie Staatsanwältin des Kantons Tessin. Ihr kompromissloses Vorgehen gegen Geldwäsche, organisierte Kriminalität, Waffenschmuggel und grenzüberschreitende Wirtschaftskriminalität trug ihr den Spitznamen "Carlita la pesta" ("Carlita, die Pest") ein. Sie arbeitete eng mit dem später ermordeten italienischen Richter Giovanni Falcone gegen die Mafia zusammen und entging 1989 im Ferienhaus Falcones bei Palermo nur knapp einem Sprengstoffanschlag.
1994 wurde sie zur Bundesanwältin der Schweiz berufen. Sie ermittelte unter anderem wegen Geldwäsche und Korruption im engeren Umkreis des früheren russischen Präsidenten Boris Jelzin. 1999 wurde sie Chefanklägerin sowohl des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, zuständig für die Verfolgung schwerer Verbrechen während der Jugoslawienkriege, als auch des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, zuständig für die Verfolgung des Völkermords in dem afrikanischen Land. Ende 2007 trat sie nach achtjähriger Amtszeit als Chefanklägerin zurück. In dieser Zeit wurden 91 von insgesamt 161 Personen, gegen die das UN-Tribunal seit 1993 Anklage erhoben hatte, verhaftet oder stellten sich freiwillig und 63 Personen wurden verurteilt.
2008 wurde Del Ponte Botschafterin der Schweiz in Argentinien, Ende Februar 2011 wurde sie pensioniert. In der "Edition Erlebt und Erinnert" ist kürzlich das Hörbuch "Carla del Ponte erzählt" herausgekommen (Swissandfamous Records).