Union verabschiedet fast einstimmig neue Grundsätze. | Sozialdemokratie besinnt sich auf traditionelle Werte. | Berlin. Es ist erst acht Jahre her, als Tony Blair und Gerhard Schröder den europäischen Konservativen gehörigen Schrecken einjagten, indem sie die "Neue Mitte" für die Sozialdemokratie reklamierten. Selbstkritisch wurde die Abkehr von sozialdemokratischen Traditionen proklamiert: "In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausragender Leistung."
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Wohin sind diese vergleichsweise elitären Zeiten? Seit dem Auftauchen der neuen gesamtdeutschen Linkspartei werden die Karten neu gemischt. Ein Run nach links hat eingesetzt. Nachdem die SPD in ihrem neuen Parteiprogramm (beschlossen vor fünf Wochen in Hamburg) den Begriff des "demokratischen Sozialismus" für sich beansprucht, weil sie ihn nicht kampflos der "Linken" überlassen will, nachdem auch die Grünen auf ihrem Parteitag in Nürnberg vor anderthalb Wochen ebenfalls nach links rückten, hat es die Union derzeit leicht, die sonst so begehrte "Mitte" zu besetzen - und zwar ziemlich konkurrenzlos. "Die Mitte" lautet folgerichtig auch das Motto des Hannoveraner Parteitages, der am Montagabend die "Grundsätze für Deutschland" praktisch einstimmig verabschiedete. Wer also wissen will, worauf er sich bei den Christdemokraten einlässt, wird sich wohl oder übel durch die - schon im Entwurf - 77 Seiten umfassenden Leitlinien arbeiten müssen.
Wir haben die Programmaussagen der beiden großen Koalitionsparteien einmal verglichen. Unter der sprachlich geglätteten Oberfläche werden Nuancen, Akzente und Unterschiede sichtbar.
So bekennt sich die CDU ausdrücklich zum "christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott" und beruft sich auf ihre konservativen, liberalen und christlich-sozialen Wurzeln. Die SPD sieht sich hingegen als "linke Volkspartei", beeinflusst unter anderem vom Sozialismus und den Gewerkschaften. Sie will die "gleichmäßige Verteilung von Einkommen, Eigentum und Chancen", einen "vorsorgenden Sozialstaat" und die "solidarische Bürgergesellschaft". Als ihre Gegner bezeichnet sie Konservative, so genannte Marktradikale und Populisten.
Kein Mindestlohn
Im SPD-Programm heißt es: "Soziale Demokratie (...) sichert die gleichberechtigte soziale Teilhabe aller durch (...) den auf Bürgerrechte gestützten vorsorgenden Sozialstaat und durch eine koordinierte Marktwirtschaft." Was eine "koordinierte Marktwirtschaft" konkret bedeutet und wie sie sich von der sozialistischen Planwirtschaft unterscheidet, bleibt offen. Die Union lehnt zwar den von der SPD ausdrücklich geforderten generellen gesetzlichen Mindestlohn ab, will aber "sittenwidrige Löhne" verbieten, die den ortsüblichen Branchenlohn deutlich unterschreiten."
Schulden der öffentlichen Hand wollen beide Parteien zurückfahren. Die SPD will eine, verglichen mit der Abgabenquote höhere Steuerquote. Dagegen stellt die Union die Forderung, die Sozialkosten von den Arbeitskosten zu entkoppeln.
Die CDU will auf allen Ebenen ein grundsätzliches Neuverschuldungsverbot durchsetzen. Länder, die die Verschuldungsgrenze nicht einhalten, müssen sich künftig einem Sanierungsprogramm unterwerfen.
Im Verhältnis zum Extremismus fällt auf: Während die CDU den Verfassungsstaat bedroht sieht durch Links- und Rechtsextremismus, ächten die Sozialdemokraten den "Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus", lassen den Linksextremismus jedoch unerwähnt.
Während die CDU Deutschland als "Integrationsland" bezeichnet, greift die SPD zur Vokabel "Einwanderungsland". Eine Nuance, aber interessant. Inzwischen hat auch die SPD die Forderung an Einwanderer aufgenommen, die deutsche Sprache zu erlernen. Die Union geht mit dem Begriff der "Leitkultur" noch einen Schritt weiter.
Die Vokabeln Eigeninitiative, Verantwortung, Eigenvorsorge kommen natürlich im Schwarzbuch öfter vor als im Rotbuch. Große Übereinstimmung gibt es - gottlob - in der Außen- und in der Umweltpolitik.
Es wäre falsch zu behaupten, dass die SPD die Mitte gänzlich freigegeben hätte. Aber der im Inneren erstarkte linke Flügel und die von außen drohende Konkurrenz der "Linken" haben dafür gesorgt, dass im Vokabular und in der Tonalität wieder stärker auf den berühmten "Stallgeruch" Rücksicht genommen wurde. Oskar Lafontaine ist so gesehen - als steinerner Gast am Redaktionstisch der SPD gesessen.