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Chance des unmittelbaren Souveräns?

Von Alfred J. Noll

Wirtschaft

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Lassen wir kurz alle Skepsis beiseite. Stellen wir uns vor, dass in der letzten Dezemberwoche des heurigen Jahres ein neuer Verfassungstext vorliegt: Die Ausschüsse haben ihre Textbausteine abgeliefert. Das Präsidium des Österreich-Konvents hat seine Redaktionsarbeit beendet. Das kostbare Produkt 18-monatiger Arbeit wird dem österreichischen Nationalrat zugeleitet. - Was dann?

Vieles ist möglich. Zunächst wird man debattieren. Dann aber wird sich rasch die Frage stellen, was die Arbeit des Österreich-Konvents taugt - und vor allem: wer beurteilen soll, ob diese Arbeit etwas taugt. Den Vorgaben gemäß hat sich die Gedankenarbeit des Konvents im Rahmen der "Prinzipien" der bisherigen Verfassung zu halten. Eine Gesamtänderung und die dadurch obligatorische Volksabstimmung über die "neue Verfassung" dürfte daher rechtlich nicht geboten sein. Freilich: Letztlich ist es nicht der Nationalrat, der das Sagen hat, sondern (aufgrund eigener Machtzuteilung) der VfGH.

Ist unstrittig, dass das konstitutionelle Novum keine Gesamtänderung darstellt, dann liegt es in der Hand des Nationalrates darüber zu befinden, wer der neuen Verfassung seinen verfassungsjuristisch erforderlichen Sanctus gibt: Soll es die qualifizierte Mehrheit des National- und Bundesrates sein? Soll es das österreichische Volk sein?

Ob darüber Einigung erzielt werden wird, das hängt vermutlich von politischen Aktualia ab, die derzeit schwierig zu antizipieren sind. Die bisherigen Aussagen sind kryptisch und verfügen über geringes Orientierungspotential. Jedenfalls kann ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates eine Volksabstimmung über eine Teiländerung der Bundesverfassung verlangen (Art. 44 Abs. 3 B-VG). Es liegt also - wieder einmal! - in der Hand von SPÖ und ÖVP, darüber zu entscheiden. Aus rechtlicher Sicht sind die Abgeordneten völlig frei.

Das führt zu einem etwas irritierenden Ergebnis: Es ist völlig ins Belieben unserer Volksvertreter gestellt, ob wir die Möglichkeit haben werden, über unsere neue Verfassung zu entscheiden. Was mit Pathos als Jahrhundertprojekt ins Leben gerufen wurde, das könnte wieder am Volk vorbei von oben für uns alle beschlossen werden. Das wäre aus demokratiepolitischer Sicht dann nicht ganz so schlimm, wenn die "neue Verfassung" sich verlässlich im Rahmen und auf der Grundlage einer "alten Verfassung" hielte, die das Produkt einer originären Volksgesetzgebung wäre. Nur, das war sie nie: Weder das B-VG 1920 noch die großen Novellen 1925 und 1929, weder die Wiederbelebung der Verfassung 1945 noch die zahlreichen anderen Änderungen der Verfassung waren (mit Ausnahme der durch den EU-Beitritt erfolgten Änderungen) je das Ergebnis einer Volksabstimmung.

Noch nie hat in diesem Land das Volk die Möglichkeit gehabt, zu seiner Verfassung "Ja" zu sagen. Wäre es nicht hoch an der Zeit, dass sich die Parteien wirklich festlegen und uns verbindlich gewähren, was wir rechtlich nicht durchsetzen können?