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Chancen für alle

Von Nina Flori

Politik
Der Sozialdemokrat Wolfgang Clement, von 2002 bis 2005 Arbeits- und Wirtschaftsminister in Gerhard Schröders rot-grüner Koalition, spricht sich dafür aus, die "Überregulierung" Europas zu stoppen.
© WKÖ/Blauensteiner

Der deutsche Ex-Minister Wolfgang Clement hat wesentlich bei der Umsetzung der Agenda 2010 mitgearbeitet und unter anderem Hartz IV eingeführt. Die Wirtschaftskammer findet, Österreich könne vom Best-practice-Beispiel Deutschland lernen.


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Wien. 1999 hat die britische Wochenzeitschrift "Economist" Deutschland als den "kranken Mann des Euros" bezeichnet. Tatsächlich lag das Wirtschaftswachstum unseres Nachbarn damals unter jenem der anderen elf Euro-Länder. Die Erwartungen der Unternehmer waren Umfragen zufolge düster, die Arbeitslosigkeit lag auf einem relativ hohen Niveau bei 10,5 Prozent.

Diese Zeiten sind jedoch vorbei. Heute spricht man vom "Wirtschaftswunder Deutschland", die Arbeitslosenzahlen sind stetig im Sinken und liegen derzeit bei 6,4 Prozent. In Bayern und Baden-Württemberg herrscht nahezu Vollbeschäftigung.

Der Sozialdemokrat Wolfgang Clement, der von 2002 bis 2005 in der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder Arbeits- und Wirtschaftsminister war, ist davon überzeugt, dass die Sozial- und Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010, die in seiner Amtszeit umgesetzt wurden, einen wesentlichen Beitrag zum Wirtschaftsaufschwung in Deutschland geliefert haben. "Ich habe 2004 gesagt, wenn die Weltwirtschaft einigermaßen vernünftig läuft, können wir 2010 Vollbeschäftigung erreichen", sagte Clement am Dienstag im Rahmen der Wirtschaftspolitischen Gespräche in der Wirtschaftskammer. "Damals wurde ich für verrückt erklärt." Heute habe Deutschland eine der geringsten Arbeitslosenraten der gesamten EU - vor allem die Jugendarbeitslosenrate sei mit etwa sieben Prozent relativ gering - und die höchste Erwerbstätigkeitsquote in der Geschichte. "43,4 Millionen Menschen sind in der Bundesrepublik zurzeit erwerbstätig."

Zu Deutschland könne man nur "chapeau" sagen, meinte Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl. Österreich solle den Blick öffnen und sich an Best-practice-Beispielen wie jenem von Deutschland orientieren.

2,5 Millionen Menschen habe man durch die Arbeitsmarktreform in den Jahren 2002 und 2003 aus der Sozialhilfe herausgeholt und in ein Vermittlungssystem hineingeholt, so Clement. "Fördern und fordern" sei damals der Leitgedanke gewesen, wer einen Arbeitsplatz ablehnt, muss nun mit Sanktionen rechnen. Der Kündigungsschutz für Kleinbetriebe wurde liberalisiert, Tariffreiheit habe die Wettbewerbsfähigkeit gesichert und die Einführung der Bundesagentur für Arbeit, an deren Spitze ein Unternehmer gesetzt wurde, habe Arbeitslose als Kunden und nicht mehr als Bittsteller der Obrigkeit behandelt. Heute gebe es deutlich weniger, nämlich eine Million Langzeitarbeitslose. "Die scheinen allerdings sehr verfestigt zu sein. Bei vielen werden wir keine Lösung hinkriegen. Aber wir müssen dafür sorgen, dass ihre Kinder nicht in dieselbe Situation kommen", so Clement.

Arbeitslos übermehrere Generationen

Arbeitslosigkeit über mehrere Generationen und Ghettobildung am Rande der Großstädte - das ist die Schreckensvorstellung der Politik. Aus diesem Grund sei die Frühförderung enorm wichtig, betonte der deutsche Arbeitsmarktexperte. Man müsse bereits im vorschulischen Bereich die Talente der Kinder entdecken und fördern, Ganztagsschulen einführen und Schulklassen mit maximal 20 Kindern schaffen. Die Investitionen in das Bildungswesen müssten massiv verstärkt werden. "Es geht nicht um Verteilungsgerechtigkeit, sondern um Chancengerechtigkeit."

In ganz Europa werde jedoch zu wenig getan, um der hohen Arbeitslosigkeit und vor allem der "unakzeptabel hohen Jugendarbeitslosigkeit" entgegenzuwirken. Man müsse einen mobilen europäischen Arbeitsmarkt im Fokus haben und sich klar dazu bekennen, dass die Wirtschaft mehr Freiräume brauche. Etwa im Bereich der Digitalisierung dürfe man nicht schon jetzt Regulierungen einführen, ohne zu wissen, wie sich die Thematik entwickle. "Es herrscht überall Misstrauen. Was fehlt, ist die eigene Verantwortung. Deshalb ist Europa so überreguliert", sagte Clement. "Man traut dem Staat mehr als dem Einzelnen."

Raushalten solle sich der Staat auch aus Lohnverhandlungen. Clement kritisiert die Einführung des Mindestlohns in Deutschland. Da habe man "gesündigt". Gerade die stagnierenden Einkommen hätten im Zeitraum 2000 bis 2010 die Wettbewerbsfähigkeit gesichert.

Enormes Potenzialdurch ältere Menschen

Enormes Potenzial sieht der 75-Jährige in der älteren Generation. Viele Menschen würden auch in der Pension gerne weiter am Arbeitsmarkt aktiv sein. Hier gelte es, den gesetzlichen Rahmen dafür zu schaffen.

Die Einführung einer Maschinensteuer, wie sie zurzeit in Österreich angedacht wird, kann sich Clement nicht vorstellen. "Mit der Agenda 2010 war dieses Denken vorbei. Ich denke nicht, dass wir wieder soweit zurückkommen."