Großbritanniens Konservative haben in Sachen Brexit jegliche gemeinsame Linie verloren. Mehr Klarheit soll nun eine Rede von Premierministerin Theresa May bringen - die aber selbst angeschlagen ist.
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London. Am Freitag reist Theresa May "nach Europa". Genauer gesagt: Nach Florenz, wo die britische Premierministerin eine Grundsatzerklärung zum künftigen Verhältnis ihres Landes zur EU abgeben will. Diese Rede wird weit über Mays Heimat hinaus mit einiger Spannung erwartet. Denn bisher weiß noch immer niemand so recht, was London im Zuge des Brexit eigentlich im Sinn hat - wie eng Großbritannien dem Kontinent weiter verbunden bleiben möchte und in welchem Maße es seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber der EU nachkommen will.
Weil aber keine Klarheit herrscht, stocken seit Monaten die Verhandlungen. Der britische Chefunterhändler, Brexit-Minister David Davis, hat zum Beispiel schlicht nicht gewusst, was er in Brüssel als mögliche britische "Scheidungs-Summe" in Anschlag bringen soll.
Schatzkanzler Philip Hammond hat jüngst von einer längeren Übergangsphase gesprochen, die "weitgehend wie der Status quo auszusehen hätte", um der britischen Wirtschaft den Übergang zur Post-EU-Zeit zu erleichtern. Von Zahlungen an die EU in Höhe von bis zu 50 Milliarden Pfund ist, der "Sunday Times" zufolge, die Rede gewesen, "in Mays innerem Zirkel" zur Sommerszeit.
Außenminister Boris Johnson wiederum will angeblich nichts tolerieren, was jenseits von zehn Milliarden Pfund liegt - und absolut "keinen Penny" bezahlen für britischen Zugang zum gemeinsamen Markt oder zur Zollunion nach dem EU-Ausstieg. Statt einer Übergangsphase von drei Jahren, wie sie Hammond vorschwebt, kann sich Johnson auch nur eine sehr kurze Zeit vorstellen: Zwölf bis 18 Monate maximal.
Die Zeit drängt
Gegensätze wie diese haben sich bisher nicht ausräumen lassen unter Mays Top-Ministern. Dabei sollten diese Fragen spätestens im Oktober, zum nächsten EU-Gipfel, mit der EU ausgehandelt sein.
Nun spricht man von einer neuen "Deadline" im Dezember, zum darauffolgenden EU-Treffen. Erst dann soll es mit Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen weitergehen. Dabei drängt die Zeit.
Eins der Probleme ist Theresa Mays schwache Position, seit den fehlgeschlagenen Unterhauswahlen vom Juni. Im Kabinett verfügt sie nur noch über begrenzte Autorität. Auch von der Partei ist ihr diese Wahlschlappe längst nicht vergeben worden. Beim Tory-Parteitag in zwei Wochen dürfte etlicher Unmut laut werden über ihre Politik und Person.
Vor allem haben sich, nach diesem Rückschlag, die Pro-Europäer bei den Konservativen bestärkt gefühlt, einen "sanfteren" Weg zum Brexit zu fordern. Schatzkanzler Hammond führt nun, im Namen von Finanz und Wirtschaft, das Lager derer an, die May zu einer "weichen Landung" beim Brexit zu überreden versuchen.
Auch Brexit-Minister Davis, anders als Hammond stets ein überzeugter EU-Gegner, zeigt neuerdings Bereitschaft zu einem pragmatischen Deal - solange Großbritannien die EU nur irgendwann wirklich verlässt. Während May im Sommer noch in den Schweizer Bergen Ferien machte, einigten sich Hammond und Davis daheim bereits im Grundsatz auf einen Kurs, der die Insel zunächst einmal nahe an der EU halten und den 27 EU-Regierungen Kompromisse anbieten will.
Ungläubig verfolgten Brexit-Hardliner in den vergangenen Wochen, wie sich vor ihren Augen die Gewichte verschoben. Bis zu den Wahlen im Juni hin hatten sie klar die Oberhand und glaubten May noch hinter sich. Zunehmende Empörung ist in letzter Zeit an der "Aufweichung des Wählerauftrags", nämlich des Referendums-Entscheids, laut geworden. Einer der eigentümlichsten Tory-Politiker, der erzkonservative Abgeordnete und freimütige EU-Hasser Jacob Rees-Mogg, ist praktisch über Nacht zum neuen Liebling der Partei aufgestiegen.
"Boris ist Boris"
Den alten Tory-Liebling, Boris Johnson, musste das mächtig wurmen. Immerhin hatte Johnson die Brexit-Kampagne im Vorjahr angeführt und ihr maßgeblich zum Erfolg verholfen. Als Außenminister aber, ohne besonders enge Verbindung zu May, fand Johnson sich rasch isoliert. Im Sommer war er an wichtigen Brexit-Entscheidungen gar nicht mehr beteiligt. Kein Wunder, dass mit seinem Einfluss sein Stern in der Konservativen Partei rapide sank.
Voriges Wochenende platzte Johnson schließlich der Kragen. In einem Beitrag für den rechtskonservativen "Daily Telegraph", dessen Brüsseler Korrespondent er einmal war, breitete er seine persönliche "Vision" für die Post-Brexit-Ära aus. Das Ganze war eine klare Herausforderung für die unschlüssige Premierministerin - zumal so kurz vor ihrem Auftritt in Florenz.
Denn Johnson wehrte sich erneut entschieden dagegen, dass die Briten für Zugang zum EU-Binnenmarkt irgendetwas bezahlen sollten. Auch ohne Anbindung an die EU, meinte er, erwarte Großbritannien eine "gloriose Zukunft". Er kam außerdem auf sein Referendums-Argument zurück, der Austritt aus der EU werde den Briten 350 Millionen Pfund pro Woche extra eintragen, die dem Nationalen Gesundheitswesen zugeführt werden könnten.
"Boris ist Boris", seufzte May. Wohin Gelder künftig flössen, werde natürlich nicht von Johnson entschieden, sondern vom Gesamtkabinett. Im Übrigen steuere sie, und niemand sonst, den Brexit-Wagen, betonte die Regierungschefin.
Zuvor hatte Innenministerin Amber Rudd dem Außenminister vorgehalten, dass er offenbar den Kurs "von den hinteren Sitzen her" vorzugeben suche. Und der Chef des Statistischen Amtes hatte Johnson wegen seiner 350-Millionen-Pfund-Behauptung fast schon einen notorischen Lügner genannt. Die "Financial Times" meldete resigniert, Johnson sei endgültig "ins Land der Phantasie abgewandert".
Partei ohne Notenblatt
Der Aufforderung mehrerer Parteikollegen, Johnson zu feuern, mochte May nicht folgen. Sie wollte ihrem aufmüpfigen Minister offenbar nicht die Gelegenheit geben, sich beim kommenden Parteitag als Rebell gegen die Regierung, als wahrer Brexit-Fackelträger zu präsentieren. Johnson selbst dementierte alle Absicht, Mays Stellung untergraben oder sich aus der Regierung absetzen zu wollen. "Wir sind ein Nest singender Vöglein", zwitscherte er leutselig. Natürlich gebe Theresa May den Ton an im Nest.
Lord Tebbit, ein früherer Parteipräsident der Konservativen, schüttelte nur bitter den Kopf nach dieser Bemerkung am Mittwoch. Das Problem, meinte Tebbit, bestehe darin, dass die Form des Brexit nie im Kabinett besprochen und beschlossen worden sei: "Wenn es ein Notenblatt gibt, darf man erwarten, dass alle vom selben Blatt singen. Gibt es keines, singt natürlich jeder sein eigenes Lied."