Das EU-Parlament wählt einen neuen Präsidenten. Das Ergebnis ist offen, Mehrheiten sind ungewiss.
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Straßburg/Brüssel/Wien. Einklatschen und Standing Ovations im Straßburger EU-Parlament: "Das ist ein bewegender Moment für mich - ohne Zweifel. Danke, dass ich noch einmal vor Ihnen sprechen darf." EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) war am Mittwoch bei seiner Abschiedsrede sichtlich gerührt. Anfängliche Buh-Rufe aus dem Lager der EU-Skeptiker quittierte er mit den Worten: "Die Attacken von Ihrer Seite sind der Stolz eines jeden europäischen Demokraten."
Ihm, Schulz, sei es in den vergangenen fünf Jahren gelungen, das Europäische Parlament einflussreicher zu machen, zu einem Ort europäischer Demokratie. "Genau diese transnationale Demokratie ist in Gefahr", warnte der 60-Jährige. "Die Spalter und die Ultranationalisten machen sich wieder breit."
Der Rückkehr von Schulz in die deutsche Bundespolitik hat ein Gerangel um seine Nachfolge ausgelöst. Tritt sie ein Konservativer an, wären mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker alle europäischen Spitzenpositionen in den Händen der Europäischen Volkspartei (EVP). Eigentlich haben Konservative und Sozialdemokraten abgemacht, dass nun, nach der ersten Hälfte der Legislaturperiode, auch das Amt des Parlamentspräsidenten an einen Konservativen gehen soll. Doch die Sozialdemokraten (S&D) kündigten die informelle Vereinbarung vor kurzem auf - und schickten ihren Fraktionschef Gianni Pittella ins Rennen.
"Schmutzfink" Tajani
So ist es ungewiss, ob der Kandidat der EVP, der Italiener Antonio Tajani, die Wahl zum Parlamentspräsidenten gewinnt. Am Dienstagabend hatte sich der 63-Jährige gegen seine EVP-Konkurrenten durchgesetzt. Tajani sitzt seit 1994 im EU-Parlament, ist seit 2014 einer der 14 Vizepräsidenten und war zwischendurch zweimal EU-Kommissar. Die Konservativen bilden zwar die größte Fraktion innerhalb des 751-köpfigen EU-Parlaments. Doch um die Wahl am 17. Jänner zu gewinnen, bräuchte Tajani die Unterstützung weiterer Abgeordneter. Und das dürfte nicht einfach werden. In seiner Heimat gehört der Jurist der konservativen Forza Italia von Ex-Premier Silvio Berlusconi an.
Als alter Kumpel Berlusconis ist Tajani für viele Abgeordnete unwählbar - nicht nur Grüne und Linke, auch ein Großteil der Liberalen lehnt ihn ab. Für den grünen Abgeordneten Sven Giegold ist Tajani gar ein "umweltpolitischer Schmutzfink".
Auch bei den Sozialdemokraten rittert ein Italiener um die Schulz-Nachfolge. Fraktionschef Gianni Pittella hat seinen Hut in den Ring geworfen - verbunden mit einer Kampfansage an den bisherigen Partner EVP. Es könne nicht sein, dass die Konservativen neben Juncker und Tusk auch den Parlamentspräsidenten stellten. Ein "Monopol der Rechten" werde er nie akzeptieren. Die strukturierte Zusammenarbeit mit der EVP, so Pittella, sei nun beendet. Der 58-Jährige setzt auf die Stimmen linker Abgeordneter, seine Kampagne richtet sich vor allem gegen die deutsche Austeritätspolitik. Sein größtes Manko: Pittella spricht lediglich Italienisch, seine seltenen Versuche, Halbsätze auf Englisch zu formulieren, sorgen für Stirnrunzeln.
Dann wäre da noch der inoffizielle Kandidat der Liberalen. Doch die Chancen des ALDE-Fraktionschefs Guy Verhofstadt wären wohl gering. Der belgische Ex-Premier etablierte sich durch charismatische Reden und einprägsame Thesen zur EU-Politik. Doch ist er auch als launiger Super-Europäer verschrien. So bezeichnete er die EU nach dem Wahlsieg Donald Trumps als "Reich der Guten".
Dass sich die EVP ausgerechnet auf Tajani einigte, dürfte weniger eine parteipolitische Entscheidung gewesen sein. "Vielmehr war das eine Allianz der sehr gut organisierten Südeuropäer", heißt es dazu aus EU-Parlamentskreisen. Demnach ist es denkbar, dass sich EVP und S&D doch noch auf einen Kandidaten einigen - und die S&D ihre Kandidatur zurückzieht, damit Tajani das Rennen machen kann. Im Gegenzug könnte S&D-Mann Pittella das nächste Mal Präsident werden. Es wäre nicht die erste Absprache dieser Art.
Rechte könnten entscheiden
Das Interesse an einer Einigung ist jedenfalls groß. Gelingt es den Großparteien nicht, sich auf einen Kandidaten zu einigen oder einen neuen, gemeinsamen Schulz-Nachfolger aus dem Hut zu zaubern, kommt es zu einer Kampfabstimmung im Plenum.
Die Gefahr dabei ist, dass kein Kandidat der Großparteien in den ersten drei Wahlgängen die absolute Mehrheit bekommt. In der vierten Runde bräuchte es nur noch eine einfache Mehrheit. Linke und Sozialdemokraten befürchten, dass dann ausgerechnet die Rechtspopulisten rund um Marine Le Pen den Konservativen Tajani zum Sieger machen könnten - auch für die EVP keine schöne Vorstellung. Einige Konservative hätten deshalb die Irin Mairead McGuinness vorgezogen, angeblich auch Junckers Favoritin. Böse Zungen behaupten zwar, ihr größter Vorzug sei, von niemandem gehasst zu werden. Doch hätte sie wohl auch Stimmen der Linken, Grünen und Liberalen geholt. Sie könnten nun an Pittella gehen.