In der Wirtschaftskrise zeigt die regierende Linkspartei PSUV erste Zerfallserscheinungen.
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Caracas. Das Hemd, das Nicmer Evans heute trägt, ist nicht mehr rot, wie noch vor ein paar Jahren. Der Wechsel von der satten Farbe zu blassem Rosa mag der gemäßigten politischen Einstellung des Venezolaners geschuldet sein. Am Rot gab es bisher auch nichts auszusetzen, immerhin ist Evans seit Jahren Verfechter der Bolivarianischen Revolution. Doch seit vergangenem Jahr ist für den überzeugten Chavista alles ein bisschen anders.
Damals nämlich, am 20. November, zeigte die alles dominierende Regierungspartei PSUV erstmals öffentlich Zerfallserscheinungen. An diesem Tag wurden Nicmer Evans und zwei weitere Mitglieder aus der Vereinigten Sozialistischen Partei ausgeschlossen. Die konkreten Gründe dafür kennt der 40-Jährige bis heute nicht. "Diejenigen, die hinter dem Ausschluss stecken, sind totalitäre Anti-Chavistas", schrieb er tags darauf in einem Tweet. Nahe liegt, dass die Aufkündigung der Mitgliedschaften Konsequenz der schonungslosen Kritik ist, die er und seine Kollegen schon länger an Präsident Nicolas Maduro und dessen Politik üben.
Evans ist Mitglied der "Marea Socialista", einer linken Bewegung, die während des vergangenen Jahrzehnts innerhalb der alles dominierenden Regierungspartei entstanden war. Die "Sozialistische Flut", wie sie auf Deutsch heißen würde, besteht aus Intellektuellen, die sich kritisch mit der eigenen Politik auseinandersetzen und mitunter unbequem werden können. "Unter Hugo Chávez war das alles kein Problem", sagt Evans. Der 2013 verstorbene Präsident habe ihnen den Raum gelassen, Kritik zu formulieren, und diese wäre niemals Anlass gewesen, Mitglieder aus der Partei zu werfen, sagt er. Doch heute müssten sich kritische Stimmen ihren eigenen Raum erschaffen. "Präsident Maduro verschließt sich jeder Kritik und kriminalisiert sie."
Laute Kritik an Maduro
Darum geht die "Marea Socialista" ab sofort eigene Wege und will Anfang Dezember als selbständige Partei zu den Parlamentswahlen antreten. Diese Entscheidung kann als die erste Abspaltung in den Reihen der Sozialisten seit der Machtergreifung Chávez’ im Jahr 1999 gedeutet werden. Den Zulassungsantrag als politische Partei hat die "Marea Socialista" bereits bei der nationalen Wahlbehörde eingebracht, doch er wurde abgelehnt. Der Grund: Der Name entspreche einer Phrase und diese könne nicht Name einer Partei sein. Evans vermutet: "Hier geht es um politische Interessen."
Denn intern wäre die Regierungspartei zerrüttet und immer weniger Chavistas würden Maduros Politik unterstützen. "Seit dem Tod von Präsident Chávez haben wir in Venezuela ein Führungsproblem", sagt Evans. Maduro habe nicht dasselbe politische Geschick wie sein Vorgänger, weshalb sein Handeln sektiererische Züge annehme. Überbordende Korruption, niedrige Erdölpreise, galoppierende Inflation und Nahrungsmittelengpässe machen die Krise komplett.
Bereits im Juni vergangenen Jahres verließ Jorge Giordani die Partei. Er war einst Planungsminister und Vordenker der bolivarianischen Wirtschaftsideologie, seit Anbeginn einer der engsten Vertrauten von Chávez. Heute schlägt er in dieselbe Kerbe wie die "Marea Socialista": Mit Maduro könne man nicht reden. Dabei wären gerade jetzt Gespräche wichtig. Etwa darüber, was aus Venezuelas Wirtschaft werden soll und wer die Verantwortung für die Krise trägt, die das Land fest im Griff hält.
Den massiven Problemen will sich die Regierung aber offenbar nicht stellen. Ursache allen Übels sieht sie in einem von der Opposition, der Oligarchie sowie dem Erzfeind USA organisierten "Wirtschaftskrieg". Auch die Tatsache, dass erst relativ spät - am gestrigen Dienstag - der Termin für die Parlamentswahl bekanntgegeben wurde, die laut Verfassung noch in diesem Jahr stattfinden muss, deuten viele als Zeichen der Unsicherheit. Evans glaubt, dass die Regierung schlichtweg Angst hat, sie könnte diese Wahl verlieren. Und dabei geht die Gefahr nicht einmal von der - ebenfalls zersplitterten - Opposition aus, sondern kommt aus der Ecke der moderaten Linken, so wie eben der "Marea Socialista".
"Die schlechteste Opposition der Welt"
"In Venezuela haben wir womöglich eine der schlechtesten Regierungen Amerikas, doch wir haben die schlechteste Opposition der Welt", glaubt Evans. Denn diese sei lediglich Nutznießerin der Protestwähler, die Präsident Maduro einfach nur weg wünschen. Doch außer "Anti-Chávez", "Anti-Regierung", "Anti-Alles" hätte sie nichts zu bieten. Regierung und Opposition nähern sich durch ihre extremen Standpunkte aneinander sogar näheran, als sie selbst jemals zugeben würden: Es geht nur noch um Macht. Doch was beide Seiten nicht erkennen wollen: Ein Großteil der Bevölkerung sieht sich heute weder von der Regierung noch der Opposition vertreten. "Das schafft ein Machtvakuum", sagt Evans.
Und von genau dieser politischen Leere will die "Marea Socialista" profitieren. Sie sieht sich als gemäßigte linke Alternative in einer gespaltenen Gesellschaft, die lediglich schwarz und weiß, nicht aber Schattierungen kennt. Ganz nach dem Motto "Back to the roots" wollen sie die bolivarianische Revolution vorantreiben, ganz so, wie das ihrer Meinung nach der verstorbene Präsident Hugo Chávez getan hätte.
Das missfällt der Regierung von Maduro, wie der Ausschluss der Parteikollegen zeigt. Und die Angst ist durchaus berechtigt. Denn obwohl die "Marea Socialista" bis jetzt keine Wahlkarte besitzt, verspricht Evans: "Wir werden zu den Parlamentswahlen antreten." Denn die Bewegung ist nicht die einzige kritische Stimme innerhalb der venezolanischen Linken. Andere Parteien, die zu den Wahlen zugelassen wurden, hätten bereits Bereitschaft gezeigt, mit der "Marea Socialista" in Koalition zu gehen und deren Mitglieder auf ihre Listenplätzen zu setzen.