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"Chávez war knapp neben Gott"

Von WZ-Korrespondentin Michaela Sivich

Politik

Eine Reportage aus Caracas.|Millionen Trauernde strömten zum Begräbnis in die Hauptstadt Caracas.


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Caracas. Die U-Bahnlinien in Caracas kann man, wie bei allen Großereignissen der Regierung, gratis benutzen, und die Anhänger des verstorbenen Präsidenten machen sich in dem öffentlichen Verkehrsmittel nicht nur durch ihre roten T-Shirts mit dem Konterfei des Comandante bemerkbar. Immer wieder sind Sprechchöre zu vernehmen: "Achtung, Achtung hier geht das Herz Chávez für Lateinamerika", im spanischen Original ein Reim. Oder "Chávez seguro, mi voto está maduro", "Chavez sicher, meine Stimme ist überlegt". Maduro bedeutet aber nicht nur "überlegt oder ausgereift", Maduro ist auch der Name des von Hugo Chavez erwählten Nachfolgers seiner Revolution, Nicolás Maduro.

Zwei Millionen seiner Anhänger sind gekommen, um sich stundenlang bei 30 Grad Celsius und strahlendem Sonnenschein anzustellen, um sich am Glassarg von ihrem Idol verabschieden zu können. Vielen wird es nicht gelingen, zu lange ist die Wartezeit und sie wollen dann doch bis zum Einbruch der Dunkelheit den Heimweg antreten, die meisten stellen sich dennoch an, "man muss es probieren" - dem Comandante die letzte Ehre zu erweisen.

Herr Anthony von der Nigerianisch-Venezolanischen Bewegung erzählt: "Der Comandante war für uns wie ein großer Bruder, er hatte viel Liebe für uns Afrikaner, er war sehr gut, und wir haben ihn auch geliebt. Gott im Himmel hat ihn geschickt, damit er Venezuela und uns hilft. Er hat uns Papiere geben, die Staatsbürgerschaft und Wohnungen."

Der schon etwas älter scheinende Pedro Garcia bricht in Tränen aus und ringt um Luft: "Er war schön, er war ein Vater, er war Liebe. Er hatte unfassbar viel Herz, er war ein Führer, national und international."

Eine Aufnahme der venezolanischen Nationalhymne, gesungen von Hugo Chávez persönlich, Revolutionslieder wie "Veneceremos" und Ska-Nummern aus dem letzten Wahlkampf "Adelante Comandate" werden von Lautsprecherboxen im gesamten Areal übertragen.

"Der Comandante ist unser Befreier, unser Vater, unser Freund, unser Bruder. Ein Familienmittglied mehr. Wir brauchen ihn heute immer noch. Der Verlust schmerzt uns sehr und das venezolanische Volk wird fortführen, was er uns hinterlassen hat. Wir werden Nicolás Maduro unterstützen. Nicolás Maduro wird unser nächster Präsident sein."

"Wir waren gestern beim Sarg, um uns von Chávez zu verabschieden, sind heute hier und morgen werden wir auch wiederkommen. Wir können ihn nicht alleine lassen. Er war immer für uns da. Jetzt müssen wir für ihn da sein", erklärt Raiza Ribas, die im Gesundheitsministerium arbeitet.

"Werden Kampf fortsetzen, mit Maduro und Vaterland"

Ähnlich sieht es die Devotionalienverkäuferin Fidela Canisaro: "Er bedeutete alles für mich. Ein sehr bescheidener Führer, hörst du? Er hat uns die Augen geöffnet. Die, die keine Pensionen hatten, haben jetzt welche. Alle können jetzt studieren, weil es gratis ist, genauso wie alle Missionen (die Sozialprogramme im Karibikstaat) und die Spitäler. Früher ist man gestorben, weil es keine Spitäler gab. Jetzt haben wir sie. So einer wie er ist einzigartig. Und wir werden die Revolution fortführen. Was wir in den vergangenen 14 Jahren erreicht haben, werden wir uns nicht aus den Händen reißen lassen. Wir werden unseren Kampf fortsetzen: mit Maduro, Vaterland, Sozialismus, und wir werden siegen. Ich bin Revolutionärin und werde für die Revolution sterben."

Haben Sie schon viele Fotos verkauft?, frage ich. "Das ist meine Arbeit, immer schon. In all seinen Wahlkämpfen und Veranstaltungen. Die Leute kaufen, um ihn in ihren Herzen zu haben."

Gleich nebenan bringt eine Mutter ihren Sohn für die Fernsehkameras in Stellung: "Sag ‚Danke Comandante für den Canaima.‘" (Canaima sind Laptops, die den Kindern in den Schulen geschenkt wurden, ein Projekt der Revolution). Der Bub wiederholt dann auch brav für die laufenden Kameras, was ihm die Mutter vorgesagt hatte. "Danke Comandate für den Canaima."

Aus eigenen Stücken wortgewaltiger ist dafür Herr Juanes: "Chávez ist Fröhlichkeit, Hoffnung und Liebe. Er ist der Führer, nicht nur hier in Venezuela und Lateinamerika, nein, der ganzen Welt. Warum? Er hat den Armen geholfen, jenen, die es am meisten brauchten, angefangen hier in Venezuela, aber schlussendlich war er ein internationaler Anführer. Deshalb lieben und mögen wir ihn. Er ist auch nicht tot, er wird für immer in unseren Herzen leben."

Die Revolution geht weiter,

"wir haben genug Erdöl"

Diese Revolution werde nicht sterben, "wir werden weiterkämpfen, für das venezolanische Volk, aber auch für alle Völker der Welt", sagt Juanes. "Wir haben genug Erdöl, nicht nur für uns, für alle. Und die ganze Welt weiß das, deshalb hat der Imperialismus unseren Präsidenten umgebracht. Es ist kein Zufall, dass vier Präsidenten Lateinamerikas zur selben Zeit an Krebs erkrankt sind: Fernando Lugo (ehemaliger Präsident Paraguays, Anm.), Chávez selbst, Juan Manuel Santo (Kolumbien), Dilma Rousseff (Brasilien) und neulich auch Argentiniens Cristina Kirchner. Die Imperialisten mit ihrer Technologie haben unseren Präsidenten vergiftet. Das war ein geplanter Mord."

Pedro Castillo, Verteiler der Gratis-Stadtzeitung "CCS", erklärt seine Verehrung so: "Chávez ist der zweite Befreier für uns. In den letzten 40 Jahren Demokratie, sogenannter Demokratie, gab es keinen wie ihn. Er hat Schluss gemacht mit den sozialen Ungerechtigkeiten hier im Land. Egal wo du gehst, du wirst auf etwas stoßen, was Chávez gemacht hat: die Barrio Andentros (Programm der medizinischen Grundversorgung), die Universidad Bolivariana, die Missionen Robinson, überall wirst du auch Chávez stoßen. Und wir müssen das verteidigen. Kein Präsident in der Geschichte Venezuelas hat erreicht, was er erreicht hat. Er hat den Armen geholfen und er hat uns die Augen geöffnet, er hat uns gezeigt, wie man Projekte macht und wie man sich organisiert. Er hat viel Positives gemacht, deshalb sind auch heute so viele Leute hergekommen. Wenn man im Ausland sagt: Chávez ist ein Diktator, ein Terrorist, glaubst Du wirklich, so viele Leute würden kommen, wenn dies wahr wäre? Aber eigentlich ist es uns egal, was das Ausland über uns denkt, die wollten sich immer schon in unsere Politik einmischen, aber es ist ihnen, dank Chávez nie gelungen. Und jetzt sind sie hochzufrieden, dass Chávez tot ist." Auf die Nachfrage, wer zufrieden sei, sagt der Zeitungsverteiler: "Ich habe CNN gesehen, dort sagten sie Chavez hatte Krebs (ohne Fremdverschulden), aber das ist nicht wahr und man hat an der Körpersprache sehen können, dass sie zufrieden sind. Es gibt schon Leute der Opposition und auch Politiker international, die Chavez anerkennen, aber die meisten nicht, die machen sich nur lustig."

Auch der "Che" Guevara Doppelgänger, Humberto Lopez aus dem bekanntesten Slum Caracas "23 de Enero", erzählt rund 20 Zuhörern, dass Chávez ermordet wurde. In seiner Version soll "das Imperium vor vielen, vielen Jahren" - auf eine genauere Jahreszahl wollte sich der Aktivist nicht festlegen - Chavez ein Mittel injiziert haben und dann mittels einer "Fernbedienung" die Krankheit zum passenden Zeitpunkt aktiviert haben. "Was machen sie (das Imperium, Anm.) jetzt, mit Nordkorea, mit dem Iran? Mit uns sollen sie sich besser nicht anlegen. Wir haben von Chávez gelerntm was Befreiung ist, richtige Befreiung, nicht der Simón Bolívar der Oligarchen, nein unserer." Und: "Wer zum Teufel war Christopher Kolumbus? Chávez hat uns aufgeklärt. Ich bin Revolutionär und Atheist, aber an den Jesus Christus von Hugo Chávez glaube ich. Jetzt werden wir seinem Weg folgen und in 30 Tagen bei den Präsidentenwahlen werden wir den Feinden des Vaterlandes schon zeigen, wer wir sind."

"Chavez ist nicht nur in Venezuela, sondern überall"

Rund um das Monument von Los Proceres, nahe dem Eingang zur Militärakademie, finden sich Musiker mit Tambour-Trommeln und Gitarren. Sie singen Lieder von Revolution aber auch von Umweltschutz, denn Hugo Chávez, so eine der Sängerinnen, die mit ihrer Musik den Anwesenden in den schweren Stunden der Trauer helfen will, hatte ein großes Herz für die Natur. "Wir Yorubas sind mit unseren Trommeln hierhergekommen, damit unser Comandante nicht geht. Er wird mit den Trommeln bei uns bleiben. Jedem Kind, das sie zu spielen lernt oder auch nur deren Rhythmus hört, wird er den Weg erleuchten. Ich möchte mich bedanken, dass Sie hier sind. Chávez ist nicht nur Venezuela, er ist auch Österreich."

Frau Esperanza, die schon seit Bekanntgabe des Todes an der öffentlichen Trauer teilnimmt, sagt: "Man kann nicht sagen, er war Gott, das darf man nicht. Aber knapp neben Gott, das kann man schon sagen. Ich war gestern am Sarg, werde es heute wieder versuchen und jeden neuen Tag". Esperanza (übersetzt: "Hoffnung) hat Glück: Die Regierung will dafür sorgen, dass der frühere Oberstleutnant über den Tod hinaus zum Volksmythos erhoben wird: Sein Leichnam soll einbalsamiert und in einem gläsernen Sarg aufgebahrt werden. "Das Volk soll ihn wie Ho Tschi Minh, Lenin und Mao Tsetung ewig präsent haben können", sagte Vize-Präsident Nicolás Maduro.