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Chef oder Chefchen?

Von Walter Hämmerle

Analysen

Über die Möglichkeiten und Grenzen des Amts des Regierungschefs.


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Endlich Bundeskanzler: Für österreichische Politiker ist das der Gipfel der Karriere, und Sebastian Kurz hat ihn erklommen. Zwar rangiert der Regierungschef der Republik protokollarisch nur auf Rang drei hinter dem Bundespräsidenten und dem Nationalratspräsidenten, aber politisch steht der Kanzler an der Spitze.

Dabei ist das Amt alles andere als leicht zu fassen. Die Theorie ordnet das politische System der Republik als parlamentarisch-präsidiales Mischwesen ein. Parlamentarisch, weil der Nationalrat jede Regierung und jeden Minister mit einfacher Mehrheit in die Wüste schicken kann; präsidial, weil das direkt gewählte Staatsoberhaupt den Kanzler und auf dessen Vorschlag hin die übrigen Minister ernennt und die Regierung auch entlassen kann. Der Kanzler spielt dabei rein rechtlich nirgendwo eine prominente Rolle.

Auch sonst ist die Verfassung bemüht, den Regierungschef kleinzuhalten. Sicher, er schlägt dem Bundespräsidenten die Minister zur Ernennung wie zur Entlassung vor und er hat auch den Vorsitz im Ministerrat, davon abgesehen verfügt er nur über die gleichen Rechte wie jeder andere Minister auch. Gemeinsame Beschlüsse kann die Regierung zudem nur einstimmig herbeiführen. Von einem Weisungsrecht oder einer Richtlinienkompetenz des Regierungschefs ist nirgends die Rede, Minister sind ihre eigenen Herren. In Deutschland ist das anders, deswegen kann in Berlin auch der Bundestag der Kanzlerin höchstpersönlich das Misstrauen aussprechen.

Zudem schwächt der Umstand, dass das Verhältniswahlrecht fast immer zu Koalitionen zwingt, den Kanzler politisch noch weiter. Wer Belege dafür sucht, muss sich nur an die Hilflosigkeit erinnern, mit der Christian Kern versucht hat, Kurz zur Übernahme des Vizekanzleramts zu zwingen.

Und trotzdem ist der Kanzler politisch die mächtigste Figur, wie der Wiener Verfassungsrechtler Manfried Welan in einer Studie aus dem Jahr 2000 zum Amt des Regierungschefs erläutert. Er ist es, der über das Vorschlagsrecht für die Ernennung und Entlassung der Minister und obersten Organe der Bundesverwaltung verfügt; er ist der Vorsitzende der Regierung und führt mit dem Kanzleramt jenes Ressort, das die alle Ministerien betreffenden Angelegenheiten regelt; zudem verfügt er über eine Generalkoordinationskompetenz in Sachen Regierung und Verwaltung; er vertritt, wenngleich zeitlich beschränkt, den Bundespräsidenten; er übermittelt die Regierungsvorlagen an den Nationalrat und anschließend die Gesetzesbeschlüsse an das Staatsoberhaupt zur Gegenzeichnung; er sorgt für die Kundmachung von Gesetzen, Staatsverträgen und Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs.

Kurz gesagt: "Er ist Kanzler in einem alten Sinn, nämlich als Hüter und Garant des Rechts", wie Welan formuliert.

Das macht ihn, jedenfalls rein rechtlich gesehen, jedoch nicht zur Führungsfigur. In der politischen Wirklichkeit kann es trotzdem der Fall sein, dass der Kanzler der Chef ist.

In der Regel ist der Kanzler auch Chef einer Partei, zumeist der stimmenstärksten. Nur in Ausnahmefällen ist das nicht der Fall, etwa in Übergangssituationen. Wenn dann noch eine Partei allein regiert oder jedenfalls die Kräfteverhältnisse in einer Koalition eindeutig geklärt sind, dann kann auch ein österreichischer Bundeskanzler die politische Arena dominieren. Bei Josef Klaus, Kanzler einer ÖVP-Alleinregierung von 1966 bis 1970, sind zwar alle Bedingungen erfüllt, doch mächtige Gegenspieler in der anarchischen Volkspartei setzten dessen Macht Grenzen. Erst Bruno Kreisky, der von 1970 bis 1983 eine rote Alleinregierung führte, gelang es, sich von den Beschränkungen des Amts zu befreien und Österreich nahe an eine Kanzlerdemokratie heranzuführen.

Entscheidend dafür war die zentralistische Struktur der SPÖ. Damit residierte auch das innerparteiliche Machtzentrum im Kanzleramt. Zeitweise schien es unter Kreisky so, als ob die Ressortverantwortung der Minister aufgehoben sei. Das ganze Kabinett hörte auf den Takt des Chefs, der Wahl um Wahl für seine Partei gewann. Und das Parlament wusste damals noch nichts von der ihm innewohnenden eigenverantwortlichen Macht. Nicht einmal vom Bundespräsidenten musste der "rote Sonnenkönig" Widerspruch fürchten. Das höchste Amt im Staat war noch weitgehend gezähmt.

An die Dominanz Kreiskys reichte erst Wolfgang Schüssel in den Jahren 2002 bis 2006 heran, Franz Vranitzky (1986 bis 1997) sah sich von einer eifersüchtigen ÖVP in großer Koalition eingehegt. Schüssel dagegen konnte sich 2002 seinen Mehrheitsbeschaffer aussuchen und entschied sich für eine demoralisierte FPÖ.

Beginnend mit Klaus, vor allem aber mit Kreisky, setzte eine Personalisierung ein, die zusehends den Kanzler ins Rampenlicht rückt. Nationalratswahlen sind längst auch, wenngleich nicht nur, versteckte Kanzlerwahlen. Dazu hat auch die EU-Mitgliedschaft beigetragen, die ebenfalls die Rolle des Regierungschefs stärkte und seine Bühne nach Brüssel vergrößerte.

Alle diese Möglichkeiten und Entwicklungen haben Christian Kern nicht davor bewahrt, die Wahlen zu verlieren. Nun ist es an Sebastian Kurz, mit gerade einmal 31 Jahren das Amt des Kanzlers mit politischem Leben zu erfüllen. Kreisky und Schüssel II stehen nicht als Vorbilder zur Verfügung. Zwar ist Kurz Obmann einer momentan domestizierten ÖVP, aber das kann sich schnell ändern, vor allem aber muss er sich mit einem selbstbewussten Koalitionspartner, der FPÖ, arrangieren, die wenig Interesse hat, dem Kanzler beim Fliegen auch noch Starthilfe zu leisten. Sehr viel eher werden die Freiheitlichen versuchen, Kurz auf dem Boden zu halten.

Überhaupt ist die Frage, ob Österreichs rauschhafte Öffentlichkeit die Begründung einer Ära noch zulässt. Stimmungen schwanken hierzulande besonders rasant (und öffentlich gesponsert) zwischen himmelhochjauchzend, dann zu Tode betrübt. Viel spricht dafür, dass dieser Hang politische Karrieren eher abkürzt als verlängert. Kurz wird versuchen, auch diese Vermutung zu widerlegen. Wie, das wird eine der spannenden Fragen für die kommenden Jahre.