Am 11. März vor 15 Jahren übergab der Diktator Augusto Pinochet das Amt des Staatschefs an den frei gewählten Präsidenten Patricio Aylwin. Formal herrscht seitdem in Chile Demokratie. Doch das Erbe der Diktatur spaltet das Land nach wie vor.
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Laut aufheulend jagt der Bus Nummer 245 die Alameda entlang, spuckt Menschenmassen vor der Fußgängermeile Ahumada aus und schlängelt sich durch den dichten Verkehr zum Präsidentenpalast La Moneda durch. Der weite Platz vor der Moneda ist angenehm ruhig nach dem Gewusel auf Santiagos Hauptverkehrsader. Links vom Eingang steht das Denkmal von Salvador Allende. Auf dem Sockel die letzten Worte, die der Ex-Präsident 1973 sprach, bevor die Moneda in den Flammen des Putsches aufging: "Ich glaube an Chile und an seine Zukunft."
Der Tote, zum Denkmal geworden, steht noch immer dem Lebenden, seinem Widersacher und nicht weniger Sinnbild, Ex-General Augusto Pinochet, gegenüber. Beide verkörpern wie niemand anders sonst in Chile die lange und steinige Suche nach historischer Wahrheit, das Ringen um eine Demokratie, die sich noch immer in den Fängen der Vergangenheit befindet, um eine Zukunft, die immer wieder auf eine der dunkelsten Epochen der chilenischen Geschichte zurückgeworfen wird.
Mut zur Demokratie
Die Zeitung: El Mercurio. Autor: Pablo Halpern: "Der weitsichtige und couragierte General Cheyre (amtierender Chef der Armee, Anm. der Autorin) hatte den Mut, ein Menschenrechtsseminar anzubieten." Ein Menschenrechtsseminar in der Armee. Der Journalist spricht von Mut und Courage bei einem Thema, das Selbstverständlichkeit sein sollte. Es sind diese subtilen Kleinigkeiten, die den Grad der Demokratisierung in Chile offenbaren.
Das Land lebt noch heute mit der Verfassung, die Pinochet 1980 verabschiedete. "Solange die Verfassung gilt, kann von einer wirklichen Demokratie keine Rede sein. Wir befinden uns noch immer in einer Übergangsphase und kämpfen mit vielen Fallstricken aus der Diktatur", urteilt Viviana Diaz, Präsidentin der Vereinigung Angehöriger verschwundener Häftlinge (AFDD). So sichert die Verfassung zum Beispiel der Rechten eine automatische Mehrheit durch die Benennung von Senatoren zu. Viele Gesetzesänderungen kommen deshalb garnicht durch.
Überreste der Diktatur
Die Transition, also der Übergang zur Demokratie, wurde in Chile vor 15 Jahren als ein Pakt mit den Militärs beschlossen. Diese setzten einen umfangreichen Forderungenkatalog durch. Noch heute fungiert die Armee wie ein Staat im Staate. Bisher fehlte es an politischem Willen und Mut, die Überreste der Diktatur abzuschaffen. "Letztendlich ist diese Demokratie nur eine Demokratie des etablierten Systems", sagt Gabriel Zoto, der während der Diktatur untertauchen musste und heute vom Ergebnis der Demokratisierung enttäuscht ist.
Dabei wird im Dezember zum vierten Mal in Folge nach dem Ende der Diktatur ein Präsident frei gewählt. Und so, wie es aussieht, hat wieder ein(e) Sozialist(in) die grössten Chancen. Michelle Bachelet, die erste weibliche Verteidigungsministerin in Lateinamerika, liegt bei den Umfragen vorn. Doch noch ist ihre offizielle Kandidatur für die regierende Mitte-Links-Concertación für die Demokratie, einer Koalition aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten, nicht bestätigt, auch wenn sie die beliebteste Politikerin des Landes derzeit ist.
Wahl der Extreme
Sie, deren Vater General Bachelet zu Tode gefoltert wurde und die selbst Gefängnis und Exil hinter sich hat, wird gegen Joaquin Lavín von der rechten Allianz für Chile antreten. Lavín, im Jahr 2000 zum Bürgermeister von Santiago de Chile gewählt und langjähriges Mitglied des Opus Dei, gilt als der absolute Führer dieser Koalition aus der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) und der Nationalen Erneuerung (RN).
Beide, Bachelet wie Lavín, verkörpern diejenigen Extreme der chilenischen Gesellschaft, die das Land seit über 30 Jahren spalten - die Sozialisten auf der einen Seite und die UDI mit ihrer Unterstützung Pinochets auf der anderen. Doch die Umfrageergebnisse zu Gunsten von Michelle Bachelet sprechen für eine allmähliche innere Aussöhnung Chiles mit seiner Vergangenheit vor Augusto Pinochet.
Denn noch vor knapp vier Jahren hatte die Kandidatur des Sozialisten Ricardo Lagos, dem heutigen Präsidenten, alte Grabenkämpfe wieder aufflammen lassen. Vor einer zweiten Ära Allende wurde gewarnt, vor Verstaatlichung und Sozialismus. Dass Lagos gewann, wenn auch nur knapp und in einer Stichwahl, zeigt, dass ideologische Gespenster langsam verblassen. Heute beurteilen knapp 60% der Chilenen die Regierungszeit von Ricardo Lagos als positiv. Sie rechnen ihm unter anderem an, die drohende Wirtschaftskrise abgewandt zu haben und begrüssen mehrheitlich die Veröffentlichung des Berichts über die Folter politischer Gegner während der Diktatur (74%) als einen notwendigen moralischen Schritt, der selbst die Militärs zur Mea Culpa zwang.
Trotz dieser Umfrageergebnisse ist in Chile ein starkes politisches Desinteresse zu spüren. "Von der politischen Kultur der Strasse, die in Chile so wichtig war, ist nichts übrig geblieben. Die wurde in der Transition regelrecht unterbunden. Das heutige politische System bietet kaum Platz für eine alternative Partizipation", erzählt Mario Garcés, Direktor der NGO ECO (Bildung und Kommunikation), aus eigener Erfahrung. Die Bürgermeisterwahlen im vergangenen Oktober, die als Politbarometer für die kommenden Präsidentschaftswahlen galten, zeigen dies deutlich. Die Wahlen wurden praktisch zwischen der Concertación und der Alianza ausgetragen. Der Anteil anderer Parteien ist verschwindend gering. Zudem entzogen sich mehr als vier Millionen Chilenen der obligatorischen Wahl oder strichen die Stimmzettel durch. Dabei hatten sich 1988/89 zur Volksabstimmung über den Verbleib Pinochets im Amt noch 92,2% aller Wähler eingeschrieben. Nun waren es im Oktober nur noch 77%. Viele haben zum Wahlwochenende eine Fahrt ins Ausland gebucht. Denn wer nachweisen kann, zum Zeitpunkt der Wahl mehr als 300 km vom Wahlort entfernt gewesen zu sein, wird vom Urnengang befreit.
Justiz wird unabhängig
Derweil gehen die Prozesse um Chiles Ex-Diktatoren weiter. Insgesamt sind 356 Anklagen wegen Menschenrechtsverletzungen in der Diktatur erhoben worden. Erste Durchbrüche sind nun zu verzeichnen. So verbüßt die Führungsriege des Geheimdienstes DINA seit Februar verschiedene Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren wegen des Verschwindens des politischen Gefangenen Miguel Angel Sandoval Rodríguez 1975. Und auch Pinochet selbst muss sich weiterhin in drei Prozessen verantworten.
Ermittler unter Zeitdruck
Doch kaum sind die Prozesse in Gang, wird schon wieder die Bremse gezogen. Das Oberste Gericht hat nun eine Frist von sechs Monaten festgelegt, in denen die Voruntersuchungen bei Verfahren zur Diktatur abgeschlossen sein müssen. "Wir hoffen, dass die Prozesse jetzt nicht durch die Frist verhindert werden. Wir befürchten, dass sie den Militärs in die Hände spielt. Die Frist wäre kein Problem, wenn die Gerichte schon zur Zeit der Diktatur ihrer Aufgabe nachgekommen und Menschenrechtsverletzungen verfolgt hätten. So aber fangen die Ermittlungen überhaupt erst an und dafür kann eine Beschränkung auf ein halbes Jahr fatale Folgen haben", sagt Viviana Diaz von der AFDD und fügt hinzu: "Trotzdem sind wir zufrieden, dass unser Kampf endlich Ergebnisse bringt. Sie zeigen: wenn es einen Willen in der Justiz gibt, ist Gerechtigkeit auch möglich." Ein Wille, der heute mehr als alles andere in Chile Ausdruck für einen weiteren Schritt in der Transition 15 Jahre nach dem Ende der Diktatur ist.