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Chiles langer Weg der halben Schritte

Von Antje Krüger, Santiago de Chile

Politik

Chile wurde im letzten Monat in bedrückender und befreiender Weise von seiner Vergangenheit eingeholt. Ein Bericht über Folter in chilenischen Gefängnissen zur Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973 bis 1989) liegt seit November vor. Mea Culpa kam darauf vom Militär, den Medien und der Justiz, nur von Pinochet selbst nicht. Er könnte sich jedoch bald auf der Anklagebank wiederfinden, nachdem das Berufungsgericht in Santiago ihn am Montag im Fall der Operation Cóndor erstmalig für prozessfähig erklärte. Trotz dieses juristischen Sieges tut sich das Land schwer mit der Aufarbeitung der Diktatur.


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Nun ist er wieder krank, der alte Mann. Kam am Wochenende ins Militärkrankenhaus von Santiago und liegt noch heute dort. Und die Wellen schlagen hoch. "Da sehen Sie mal, wie die den Greis mit ihren Gerichtsverfahren quälen", rufen diejenigen, die an sein Krankenbett geeilt waren. "Wo bleiben denn da die Menschenrechte", fragen sie.

Von den anderen, die vor dem Berufungsgericht applaudierten, als der Anklage gegen den 89-Jährigen stattgegeben wurde, kommt die Antwort: "Das ist doch nur Teil seiner Verteidigungsstrategie. Der will sich seiner gerechten Strafe entziehen. Vor Gericht gehören die Menschenrechte, nicht in den Schutz eines Krankenbettes". Schon bei seiner ersten Festnahme in London 1998 hatte er den Kranken gemimt und bei seiner Rückkehr nach Chile den Rollstuhl triumphierend weggestoßen. Nun hoffen die Angehörigen der Diktaturopfer, dass sich der alte Mann nicht wieder wie vor zwei Jahren hinter seiner angeblichen Senilität verstecken kann. Damals wurde er im Fall der Todeskarawane vom Obersten Gericht wegen Demenz für prozessunfähig erklärt.

Augusto Pinochet, Chiles Diktator von 1973 bis 1989, spaltet schon wieder das Land. Gegen ihn laufen verschiedene Verfahren (siehe Kasten), an ihm entlädt sich der erbitterte Streit um Chiles historisches Erbe und an ihm misst sich die Qualität der neuen Demokratie. Der Greis, der kaum noch laufen kann und von dem die Verteidigung behauptet, er sei senil und daher nicht verhandlungsfähig, hat das Land derartig stark geprägt, dass er noch immer den Weg mit vorgibt, den Chile bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit geht. Bislang ein Weg moralischer Bekenntnisse ohne rechtliche Konsequenzen. Ein Weg der Kompromisse mit denjenigen, die 16 Jahre lang Terror ausübten. Ein Weg voller Tabus.

Eine Enzyklopädie des Horrors

Es war der Bericht der Kommission für politische Haft und Folter, der im vergangenen Monat Chile mit aller Wucht auf seine furchtbarste Zeit zurückwarf. 35.000 ehemalige politische Gefangene hatten Zeugnis über ihre Haftzeit in der Diktatur abgelegt. "Ich wurde in eine Zelle geführt, in der es stark nach Blut roch. Sie rissen mir die Kleider runter und banden mich auf einem Tisch fest. Dann gaben sie mir Stromstöße in die Vagina, die Brüste und die Knie. Später sagte ein Unteroffizier, er hoffe, dass dies nie seiner Tochter passieren würde, sollte sich der Spieß einmal umdrehen," erinnerte sich eine damals noch minderjährige Frau.

Der kürzlich im Internet erschienene Bericht brach mit einem Tabu in Chile. Dass während der Diktatur gefoltert wurde, wusste jeder. Doch war bisher immer nur von den rund 3.000 Ermordeten und Verschwundenen die Rede. Ihre (Nicht)Existenz ließ sich schwer leugnen. Die Folteropfer jedoch lebten ohne erkennbare äußere Wunden weiter und blieben aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt. Ihr Schicksal zeigt, wie wenig die Chilenen bisher bereit und fähig waren, den Blick zurück mit offenen Augen zu wagen und die Konsequenzen zu tragen. Auch 15 Jahre nach Ende der Diktatur leben Henker und Opfer noch nebeneinander als wäre nichts geschehen.

Dass die anonymen Folteropfer überhaupt eine Stimme erhielten, schien vor kaum einem Jahr noch undenkbar. Zu groß war die Angst vor dem endgültigen Bruch mit den alten Machthabern. Sie beeinflussen noch immer stark das Meinungsbild. Um so erstaunlicher ist, dass 74% der Chilenen die Veröffentlichung des Folterberichts begrüßten und 84% von den Institutionen fordern, sich zu entschuldigen. Nicht nur die Militärs übernahmen seit dem die Verantwortung. Auch die Justiz gestand, dass sie damals viele Menschenrechtsverletzungen hätte verhindern können.

Trotzdem sind es in Chile noch immer nur Menschenrechtsgruppen und einige engagierte Richter, die auch die strafrechtliche Verfolgung der Henker und Folterer fordern. Oft bleiben sie dabei alleine. Erst kürzlich bat Präsident Ricardo Lagos, keine Spannungen wegen der Verfahren gegen Pinochet aufkommen zu lassen. Und im Forum der Zeitung "El Mercurio" sprechen sich gut drei Viertel der Leser mit heftigen Worten gegen die Anklagen aus. Die Beiträge lesen sich wie aus dem Kalten Krieg. Von Verrätern ist die Rede. "Wie können sie es wagen, den Retter unserer Heimat, Don Augusto Pinochet, verhaften zu wollen," heißt es dort.

Moral versus Strafrecht

Es ist dieser lange Arm der Diktatur, der die Chilenen bei der Verfolgung ihrer Verbrechen immer nur zwei kleine Schritte vor und schnell wieder einen zurück gehen lässt. So hat zwar Präsident Lagos mit seinem Projekt "Es gibt kein Morgen ohne das Gestern" vor einem Jahr das Thema Vergangenheitsbewältigung zur Staatsangelegenheit gemacht und Fakten veröffentlicht, Opfer entschädigt und internationale Menschenrechtskonventionen ratifiziert. Jedoch gilt noch immer die unter Pinochet 1980 verabschiedete Verfassung sowie die Selbstamnestie der Militärs. Auch beim Folterbericht werden strafrechtliche Konsequenzen verhindert. Die Identitäten der Folterer, die der Kommission vorliegen, sollen während der nächsten fünfzig Jahre geheim gehalten werden. Damit sind Opfern und Richtern die Hände gebunden. Nach Ablauf der Frist aber wird von den Henkern kaum noch einer am Leben sein.

"Der Präsident hatte versprochen, dass die Wiedergutmachung hart und symbolisch sein würde. Heute zeigt das Volk klar, dass es von rein moralischen Triumphen genug hat", kritisiert Julio Aránguiz, Präsident der Vereinigung ehemaliger politischer Gefangener, diese Vorgehensweise in der Zeitschrift "El Siglo" und veröffentlichte im Internet die Namen derjenigen, die schlugen, vergewaltigten und mit Strom quälten. Damit die Chilenen die Zeit der Diktatur der Anonymität entreißen und das lähmende Schweigen, das Schutzschild der Täter, endet. Damit der Folterbericht mehr ist, als nur ein moralisches Dokument, und Chile endlich den Weg von Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Aufarbeitung mit ganzen Schritten geht.