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Chiles Neuanfang

Von Ulrich Brand

Gastkommentare

Am Sonntag wird über eine neue Verfassung abgestimmt. Sie ist eine Antwort auf soziale Aufstände, betritt in einigen Bereichen Neuland und hätte in ökologischen Fragen weltweit Modellcharakter.


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"In Chile wurde der Neoliberalismus geboren und in Chile stirbt er!" Im heurigen März, an dem Tag, als er als Präsident antrat, rief Gabriel Boric diesen Spruch der jubelnden Menge zu. Damit bezog er sich auf ein Motto der Protestbewegungen, die ab Oktober 2019 wochenlang das südamerikanische Land elektrisierten. Boric kommt aus Vorläufern dieser Mobilisierungen. Er wurde vor gut zehn Jahren als Studentenführer bekannt, 2014 als unabhängiger Kandidat ins Parlament gewählt und war wenig später Mitbegründer der linken Frente Amplio (Breite Front).

Als Abgeordneter verhandelte Boric im November 2019 einen Kompromiss mit dem damaligen Präsidenten Sebastián Piñera. Letzterer konnte zwar bis zum Ende der Wahlperiode im Amt bleiben, musste aber ein Referendum versprechen, in dem darüber abgestimmt wurde, ob eine neue Verfassung ausgearbeitet werden sollte.

Damit sollte die Verfassung des einstigen Militärdiktators Augusto Pinochet von 1980 ersetzt werden. Das nämlich forderten die Protestierenden und entsprachen damit einer mehrheitlichen Stimmung in Chiles Gesellschaft. 78 Prozent stimmten im Oktober 2020 dafür, eine verfassungsgebende Versammlung einzusetzen. Diese wurde im Mai 2021 gewählt und nahm wenig später ihre Arbeit auf. Nach einem Jahr lag der Entwurf für eine neue Verfassung vor, über die am 4. September nun abgestimmt wird.

Rechte mobilisieren gegen Verfassung, Linke dafür

Seit Wochen mobilisiert die politische Rechte stark für "rechazo" (Ablehnung) am kommenden Sonntag. Ihr Diskurs dominiert mittlerweile die breiten Medien, die in den Händen der besitzenden Klasse sind. Zu den Fake News gehört, dass die Häuser der Menschen oder die Rentenfonds enteignet werden würden.

Dagegen mobilisieren insbesondere die sozialen Bewegungen für "apruebo" (Befürwortung). Dafür nutzen sie die Sozialen Medien, organisieren kleine und große Veranstaltungen sowie Konzerte, gehen von Tür zu Tür und in Schulen. Sie wiederholen auf diesem Wege das, was bei der Wahl Borics im vorigen Dezember den Erfolg brachte. Internationale Unterstützungskampagnen sollen motivieren und die Positionen für die neue Charta stärken. Aktuell liegt "rechazo" bei den Umfragen leicht vorne, wobei "apruebo" den Rückstand stetig verringert. Ein knappes Fünftel der Bevölkerung ist unentschieden.

Der Tag der Abstimmung hat Symbolkraft, denn am 4. September 1970 gewann der Sozialist Salvador Allende die Präsidentschaftswahlen. Das Land machte sich auf den "chilenischen Weg" zu einem demokratischen Sozialismus. Damit bildete es einen Kontrapunkt zu den eher autoritären linken Traditionen, die in der russischen Oktober-Revolution ihren Ausgangspunkt nahmen und in Lateinamerika Anfang 1959 ihren Höhepunkt erreichten, als Fidel Castro, Ernesto "Che" Guevara und ihre Gruppe unter dem Jubel von Millionen in La Havanna einzogen.

Doch das "chilenische Experiment", auf das die Welt einige Jahre neugierig blickte, wurde am 11. September 1973 mit dem Putsch Pinochets, unterstützt vom US-Geheimdienst CIA, brutal beendet. Der Diktator setzte 1980 die Verfassung ein und schaffte die Grundlage für das "neoliberale Labor" Chile: Die Rechte von Gewerkschaften und Beschäftigten wurden pulverisiert, das Bildungs- und Gesundheitssystem, die Wasserversorgung und die Rentenversicherung wurden privatisiert.

Die Hälfte der Alterspensionen liegt heute bei umgerechnet 130 Dollar, bei Preisen auf westeuropäischem Niveau. Der Zugang zu den Hochschulen kostet oft einige hundert Dollar im Monat, so viel wie die Monatseinkommen vieler Familien der unteren Mittelschicht. Daher beenden viele junge Menschen ihr Studium mit hohen Schulden - und mit wenig Aussichten, diese in ihrem Berufsleben ohne größere Probleme begleichen zu können.

Massive Proteste, wenig sichtbare Veränderungen

Gegen diese und andere Zumutungen gibt es seit einigen Jahren massive Proteste. Doch bisher mit wenig sichtbaren Veränderungen auf der politisch-institutionellen Ebene. Denn auch Regierungen der Post-Pinochet-Zeit ab den 1990ern stellten die neoliberalen Dogmen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht infrage.

Doch in vielen gesellschaftlichen Bereichen kam es zu starken Politisierungen. Die indigenen Mapuche kämpfen im Süden des Landes um Landrechte, die feministische Bewegung Ni Una Menos ("Keine weitere (Frau) mehr") hat die Themen Frauenmorde und sexualisierte Gewalt auf die politische Tagesordnung gehoben und das konservative Gesellschaft- und Familienbild - Familie, Religion, Vaterland - grundlegend hinterfragt. Immer wieder mobilisierten die Schülerinnen und Schüler und Studierenden für bessere Bildungs- und Lebensbedingungen. Im Oktober 2019 gingen wochenlang Millionen Menschen auf die Straßen.

Der Verfassungsentwurf vom heurigen Juli legt vor dem Hintergrund der sozialen Verwerfungen und Proteste weitreichende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte fest. Er ermöglicht umfassende Ent-Privatisierungen, schreibt einen starken öffentlichen Sektor und eine stärker regulierende Rolle des Staates in der Wirtschaft fest - auch in Bezug auf die für Chile wirtschaftlich wichtigen natürlichen Rohstoffe. Zudem garantiert er den Indigenen, die bisher kaum Rechte hatten, Selbstbestimmung, für bestimmte Fragen die Gültigkeit ihrer traditionellen Rechtssysteme und weitreichende Landrechte. Mit diesen Bestimmungen sind weitreichende Konflikte mit den aktuellen Landbesitzern - den besitzenden und weiterhin mächtigen Klassen Chiles - und mit internationalen Unternehmen, programmiert.

Geschlechterparität in allen öffentlichen Ämtern

Doch die zur Abstimmung stehende Satzung ist weit mehr als eine Korrektur des Erbes der Diktatur. Sie betritt auch Neuland. Erstmals in der Geschichte der Welt wird in einer Verfassung festgelegt, dass in allen öffentlichen Ämtern Geschlechterparität gilt. Das kann als Ergebnis feministischer Kämpfe verstanden werden. Das gilt auch für das Recht auf Pflege, das den gesamten Lebenszyklus von der Geburt bis zum Tod umfasst. Und auch das "Recht auf Freitod" wäre in der Verfassung verbrieft.

Die Bestimmungen in Artikel 1 legen unter anderem fest, dass Chile ein "ökologischer Staat" sein soll. Mit den genaueren Ausführungen könnte das Statut auch international ein Vorbild dafür sein, wie Gesellschaften mit der sich zuspitzenden ökologischen und insbesondere mit der Klimakrise umgehen. So werden etwa Ernährungssouveränität und der Schutz von traditionellem Saatgut zu wichtigen Staatszielen erklärt. Zum zweiten Mal nach der Verfassung Ecuadors von 2008 werden der Natur eigenständige Rechte zugesichert, sie wird zum Rechtssubjekt und soll nicht länger als auszubeutende Ressource gesehen werden. Natürliche Gemeingüter wie Luft und Wasser sollen besonders geschützt, Umweltrechte etwa über eine Ombudsbehörde und eine eigenständige Umweltgerichtsbarkeit einklagbar werden.

Die Umsetzung der neuen Charta würde auch bedeuten, dass der Ressourcenhunger des globalen Nordens anders gestillt werden muss, als das bisher der Fall und geplant ist. Chile ist bisher nicht nur der weltweit größte Exporteur von Kupfer, sondern künftig soll mit dem als "weißes Gold" bezeichneten Lithium der Umstieg auf Elektroautos in Ländern wie Deutschland und China vorangetrieben werden. Würden die neuen Bestimmungen umgesetzt, müsste viel stärker auf die sozialen und ökologischen Bestimmungen der Rohstoffförderung geachtet werden. Und die lokale Bevölkerung würde das Recht bekommen, gegebenenfalls die Ressourcenextraktion zu untersagen.

Initiativen zur Reform der Weltwirtschaft

Insofern könnten von Chile, wohl im Verbund mit anderen linken Regierungen in Lateinamerika, wie etwa jener neuen in Kolumbien unter Gustavo Petro oder nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober womöglich in Brasilien, Initiativen zur Reform der Weltwirtschaft ausgehen. Diese gerechter und ökologischer zu gestalten, ist eine internationale Grundbedingung, um viele zur Abstimmung stehenden Ziele der neuen Verfassung zu erreichen. Doch dafür bedarf es nicht nur eines angemessenen rechtlichen Rahmens, sondern einer viel umfassenderen Veränderung der extrem ungleichen Lebens- und Machtverhältnisse in Chile.

Die Unsicherheiten und Herausforderungen sind also enorm. Doch in vielen Gesprächen wird gesagt: "Wir wollen am 5. September in einem anderen Chile aufwachen. Die Arbeit der Veränderung wird erst dann beginnen." Die zur Abstimmung stehende Verfassung wird dafür als "caja de herramienta", als Werkzeugkasten, verstanden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Doch von den möglichen epochalen Veränderungen könnten auch wir im globalen Norden lernen.