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"China fehlt eine eigene Idee"

Von Matthias Nagl und Thomas Seifert

Politik

Auf dem Weg zu einer grüneren Gesellschaft gibt es noch kein Konzept für eine Modernität nach chinesischer Art


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"Wiener Zeitung": Frau Hilton, Sie beschäftigen sich mit Chinas Ökologisierung. Wieviel davon ist Propaganda und wieviel davon ist tatsächliches Bewusstsein der politischer Führung?Isabel Hilton: Es gibt tatsächliches Bewusstsein, das sich aus zwei Punkten speist: Einerseits aus der Zerstörung, die bisher angerichtet wurde. Die Bevölkerung beklagt sich, es gibt Widerstand gegen die Staatsgewalt. Der zweite Punkt ist die Veränderung von Chinas wirtschaftlicher Strategie. China hatte 30 Jahre lang verschwenderisches, verschmutzendes Wachstum. Wir erreichen den Punkt, an dem dieses Modell ausgereizt ist, weil der Nachschub an billigen Arbeitskräften aufgrund der Ein-Kind-Politik zur Neige geht. Deshalb muss sich China in Richtung eines nachhaltigeren Entwicklungsmodells verändern. Für die Führung gibt es keinen Ausweg. Die Frage ist nicht, ob sie es tun soll, sondern wie.

Optimisten sagen, China könne vom Problem zum Lösungsanbieter werden. Es könnte unsere Dächer aufgrund seiner Produktionsmöglichkeiten quasi mit Solaranlagen zupflastern. Stimmen Sie dem zu?

Der Preis von Solaranlagen ist ein Viertel dessen, was er vor zehn Jahren war. Die gute Nachricht ist, dass Chinas Produktionsvermögen so groß ist, dass es weltweite Auswirkungen hat, wenn sich China für diese besonders einfache grüne Technologie entscheidet. Die schlechte Nachricht ist, dass es in China zum Beispiel bei Windkraft aufgrund von Förderungen eine enorme Blase gibt. Aber wenn sich China für den grünen Weg entscheidet, wird das auch die Möglichkeiten aller anderen beeinflussen.

Wenn es stimmt, was die Wissenschaft sagt, wird China bei einem Anstieg des Meeresspiegels ernsthafte Probleme bekommen. Gibt es auch dafür ein Bewusstsein?

Ja. Dieses Problem wird durch die Entnahme von Grundwasser noch verschärft. Shanghai etwa sinkt ab, und der Meeresspiegel steigt. Es gibt in China praktisch niemanden, der Einfluss hat und das leugnen würde. Das heißt aber nicht, dass China in der globalen Klimapolitik bisher konstruktiv war. Wie alle Politiker sorgen sich die chinesischen Politiker zuerst um interne Probleme.

Kommt das Bewusstsein für grüne Themen von der Regierung, weil sie einem westlichen Trend folgt, oder geht das auch vom Volk aus?

Es kommt von beiden Seiten. Es gibt eine große Umweltbewegung, die sich aus dem Widerstand gegen Dammbauten und die Verschmutzung gebildet hat. Die Luft- und Wassersituation in China ist ein Problem für jedermann. Die Regierung hat aber auch ein Interesse daran. Wenn man versucht, auf der Wertschöpfungskette weiter hinauf zu kommen, versucht man, Patente der nächsten Technologiegeneration zu bekommen. Grüne Technologien sind diese nächste Generation.

Hinter mehr und mehr Protesten scheinen Umweltthemen zu stehen. Wie verhält sich da die Regierung?

Für Umweltthemen gibt es Redefreiheit. Bis zu einem gewissen Grad kann man sich hier organisieren. Die Regierung will der Zivilgesellschaft aber nicht zu viel Raum geben, denn es ist klar, dass man schnell beim politischen System landet, wenn man sich bei Umweltthemen organisiert. Die Regierung geht sehr unterschiedlich mit Protesten um. Manchmal unterdrückt sie Proteste, manchmal sperrt sie Leute ein, manchmal verhandelt sie.

In Sachen Mobilität folgt China dem Beispiel der USA. Stichwort: "Jedem Bürger sein Auto." Warum fällt es China so schwer, moderneren Mobilitätskonzepten zu folgen?

Im 20. Jahrhundert holte China die meisten seiner Zukunftsideen von woanders. Die Idee des Nationalstaats, Marxismus, Demokratie, Wissenschaft, all das sind ausländische Ideen. Das Moderne kam immer von auswärts. Ab den 1950er Jahren verfolgte China eine Idee von Modernität, die das Amerika von 50 Jahren davor war. Wenn sie an eine moderne Stadt dachten, hatten sie eine amerikanische Vision. Aber eine amerikanische Stadt ist keine Stadt des 21. Jahrhunderts. Das ist eine europäische Stadt. China hat noch immer keine Idee einer eigenständigen Modernität.

Isabel Hilton
Die britische Gründerin und Chefredakteurin der zweisprachigen englisch-chinesischen Website Chinadialogue.net, die auf chinesische Umweltthemen spezialisiert ist, war Vorsitzende des Seminars "China im 21. Jahrhundert" des "Salzburg Global Seminars".