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"China ist kein kleines Segelboot"

Von Thomas Seifert

Wirtschaft

Das Wirtschaftsklima in China kühlt weiter ab - doch das ist kein Grund zur Panik, meint der chinesische Ökonom Xu Sitao.


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"Wiener Zeitung":Wie geht es Ihnen nach den heftigen Turbulenzen auf den chinesischen Aktienmärkten? Liegen Sie in der Nacht wach? Sind sie nervös?Xu Sitao: Ich bin relativ entspannt.

Warum?Xu Sitao: Gut, ich habe auch Geld verloren. Aber das war Geld, das ich vermutlich davor nie hätte verdienen dürfen. Der chinesische Aktienmarkt wurde ins Leben gerufen, um die staatlichen Großunternehmen mit Kapital zu versorgen. Die meisten der dynamischen Firmen sind an den chinesischen Börsen gar nicht gelistet. Und jene, die gelistet sind, mögen vielleicht nicht die besten Unternehmen sein. Genau deshalb sehen wir große Unterschiede zwischen den Fundamentaldaten und den Kursen. Eine Kurskorrektur war unvermeidlich. Diese hat dann zu Turbulenzen an den Märkten geführt, um es einmal milde auszudrücken. Es gibt aber auch gute Nachrichten: Die Investoren an den heimischen Märkten sind urbane Chinesen, rund 100 Millionen Menschen. Chinesische Papiere machen rund 10 Prozent ihres Anlageportfolios aus. Die Firmen, die den Aktienmarkt zur Finanzierung anzapfen, machen 5 Prozent aller Firmen aus. Und obwohl die Börsen in allen Schlagzeilen sind, sind sie für die chinesische Volkswirtschaft - zumindest noch derzeit - von begrenzter Relevanz.

Die europäischen Autobauer sind aber jedenfalls nervös.Xu Sitao: Zu Recht. Der Automarkt macht übrigens 10 Prozent der chinesischen Volkswirtschaft aus und seit 2009 ist China der größte Markt für Passagier-Pkw und hat seit damals die USA überholt. Der Automarkt ist in China in den vergangenen Jahren stets schneller gewachsen als das generelle Wirtschaftswachstum. Heuer wird das Wachstum des Automarkts aber nur ein oder zwei Prozent betragen. Der Markt in den Mega-Städten ist zunehmend gesättigt: In Peking kann ich mir kein zweites Auto kaufen, bevor ich nicht das erste Auto verkaufe. Und auch wenn ich mir das erste Auto kaufe, muss ich für die Zuteilung der Nummerntafel an einer Lotterie teilnehmen. Am Immobilienmarkt ist es ähnlich: Ich kann mir nämlich auch keine zweite Wohnung kaufen, bevor ich nicht die erste verkauft habe. Die Sorge um den Immobilienmarkt verstehe ich zwar, allerdings ersieht man am eben Gesagten, dass in China die Nachfrage gedämpft wird, während sie in den USA vor der Krise aufgeblasen wurde.

Es heißt, die Regierung in Peking will ein anderes Wachstumsmodell: Weg von einer investitionsgetriebenen, hin zu einer konsumgetriebenen Konjunktur.Xu Sitao: So ist es. Aber China ist nicht ein kleines, wendiges Segelboot, wo man einfach das Ruder umlegt und - presto! - segelt man in eine andere Richtung. Aufgrund der Größe des Landes können die Wandlungsprozesse nur sehr graduell, schrittweise, vorsichtig und somit langsam erfolgen. Aber es geht der politischen Führung nicht mehr länger um bloßes Wirtschaftswachstum. Bisher hat man sich auf die Brust getrommelt und auf den Tisch geklopft und stets betont: Acht Prozent Wirtschaftswachstum und kein Prozentpünktchen weniger. Das hat sich geändert. Nun geht es darum, die Erwartungen der Bürger zu managen. 2016 wird das Wachstum rund 6,5 Prozent betragen und auf längere Sicht sollte man sich von einem Wirtschaftswachstums-Ziel verabschieden. Man kann die Wirtschaft nicht managen, wie man Palatschinken umdreht, hat Präsident Xi Jinping vor zwei Jahren gesagt: Das haben wir nach 2008 gesehen, als ein gigantisches Wirtschaftsförderungsprogramm gefahren wurde, dessen Erfolg heute nicht so klar ist. Denn politische Führungsfiguren wollen immer Geld ausgeben, denn dieses Geld ist ja das Geld anderer Leute. Bisher hält man sich in Peking mit derartigen Maßnahmen aber zurück. Und sollte es derartige Programme geben, wette ich, dass das Geld ins Landesinnere und nicht an die Küste, nach Westen und nicht nach Osten und in Umweltprojekte oder Gesundheits- und Sozialprojekte fließen wird. Um den Menschen Optimismus zu geben, muss man soziale Sicherungssysteme einziehen und braucht ein höher entwickeltes Finanzsystem. Die Deregulierung der Zinssätze wird Wunder wirken, einige Zombie-Unternehmen müssen konsolidieren und Rationalisierungsmaßnahmen setzen. Mit China ist es wie mit einem guten Buch: Man sollte es nicht an seinem Umschlag beurteilen, sondern am Inhalt. Der Umschlag ist seit 1949 derselbe, der Inhalt hat sich sehr stark verändert und modernisiert.

Was bedeuten diese Entwicklungen für Unternehmen aus der Europäischen Union?Xu Sitao: China will ein neues Wachstumsmodell, das nachhaltiger ist. Der Service-Sektor wird den Produktionssektor überholen. Die westlichen Provinzen werden schneller wachsen als die Küstenregionen. China wird der dominante Player sein, der Kapital bereitstellen wird. Die Menschen im Land wollen ihre Ersparnisse
produktiver anlegen. Das bedeutet, sie wollen Investitionsmöglichkeiten auch im Ausland. Und jene, die keinen Mercedes kaufen können, wollen zumindest Daimler-Aktien. Die westlichen Firmen, die in China tätig sind, müssen beweglicher und agiler werden, müssen ihre Angebote stärker auf den lokalen Markt anpassen und letztlich müssen die chinesischen Tochterunternehmungen genuin chinesische Firmen werden.

Herbert Kovar: Ich darf ergänzen: In den Nischen, in denen österreichische Unternehmen tätig sind, geht es nicht um Economies of Scale. Es geht nicht um riesige Massenproduktion, sondern um Qualität. Die chinesischen Unternehmen brauchen hochqualitative Komponenten. Sie wollen aber nicht diese Komponenten kaufen, sondern in jene Unternehmen investieren, die diese Komponenten herstellen. Partnerschaften zwischen österreichischen und chinesischen Unternehmen sind in jedem Fall sinnvoll: Österreichische Firmen stellen Know-how bereit, chinesische Firmen bieten Marktzugang und Kapital. Letzteres ist seit 2008 umso wertvoller, da die Bankenfinanzierung sehr viel schwieriger geworden ist. Aufgrund des derzeit niedrigen Eurokurses sind Anteile an europäischen Unternehmen derzeit günstig, das schlägt sich auch im Merger&Acquisition-Geschäft nieder. Das ist aber nicht der einzige Grund: Die chinesischen Unternehmen wollen ihr Portfolio erweitern und nicht nur vom chinesischen Markt abhängig sein. Vielleicht erwarten sie auch eine weitere Abwertung des chinesischen Renminmi/Yuan und wollen die Deals noch vorher abschließen.

Zu den Personen

Herbert Kovar, Xu Sitao

Xu Sitao ist Chefökonom des Beratungsunternehmens Deloitte in China. Er war zuvor für verschiedene Banken und die Ratingagentur Standard & Poor’s tätig.

Herbert Kovar arbeitet für Deloitte in Wien und ist dort unter anderem für das China-Geschäft zuständig.