"Die Wahrheit in den Tatsachen suchen!" So die berühmte Lehre Mao Zedongs. Tatsache: Politiker völlern Kreide, ehe sie über China reden. Scharfe Sprüche ändern in China ebenso wenig wie ein Olympia-Boykott oder Proteste gegen die Unterdrückung Tibets. Hervorragend ist allerdings die humanitäre Hilfe für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Sitschuan, weil solidarisch mit Menschen und nicht mit einem Regime.
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Sinnvoll ist auch beiderseits vorteilhafter Handel, da ein Abbruch niemandem nützt. Aber: Auslagerer von Produktionen nach China profitieren von der Ausbeutung jener Millionen Kulis, die unter Bedingungen einer Legebatterie schuften. Profit auf Kosten der Menschenrechte?
Zählebig ist die Ansicht, dass nur behutsame Annäherung Wandel in China schaffe. Der große Reformpolitiker Deng Xiaoping sah das anders: "Rote oder schwarze Katze - Hauptsache sie fängt Mäuse!" Er meinte wirtschaftliche und nicht politische Reformen. Dieses Katz-und-Maus-Spiel hatte bereits Lenin 1921 mit seiner liberalen "neuen Wirtschaftspolitik" getestet. Sein Argument: "Die Kapitalisten liefern uns sogar die Stricke, mit denen wir sie aufhängen."
Tatsachen schafft Artikel 1der 2004 reformierten Verfassung: China "ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes und wird von der Arbeiterklasse geführt." Laut Präambel wird China jedoch "geführt von der KP und angeleitet durch den Marxismus-Leninismus und die Ideen Mao Zedongs". Der Marxismus-Leninismus spricht aber dem Politbüro der KP das Machtmonopol zu. Das Machtinstrument heißt "demokratischer Zentralismus": Alle Anordnungen höherer Instanzen sind von jeder nachgeordneten bedingungslos durchzuführen.
Dann: "Der Staat respektiert und schützt die Menschenrechte." Das schlösse naturgemäß die Rechtsstaatlichkeit ein. China manipuliert aber dieses Grundprinzip. Amtlich gilt nicht die "Herrschaft des Rechts", sondern die "Herrschaft durch Recht". Folglich geht das Recht vom Machtmonopolisten aus. Schließlich: "Das legale Privateigentum ist unantastbar." Was "legal" ist, bestimmt der Machtmonopolist. Ihm sind aber ausländische Investoren hoch willkommen, weil sie wesentlich zum Wirtschaftswachstum von durchschnittlich zehn Prozent beitragen.
Dabei schneidet die Partei-Elite kräftig mit. Sie stellt knapp 90 Prozent der 3000 reichsten Chinesen. Und rund 85 Prozent jener, die an den Hebeln von Finanz, Außenhandel oder Großkonstruktionen sitzen, sind nächste Verwandte der Partei-Elite. Ihr "legales Privateigentum" ist "unantastbar" - solange nicht endemische Korruption diesen "Kader-Kapitalismus" bloßstellt. Wer auffliegt, riskiert seinen Kopf, weil er gegen die "demokratische Diktatur des Volkes" verstößt.
So bleiben an Tatsachen die Koexistenz von echtem und Kader-Kapitalismus und das Hoffen auf einen chinesischen Gorbatschow.
Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".
"Scharfe Sprüche ändern in China ebenso wenig wie ein Olympia-Boykott oder Proteste gegen die Unterdrückung Tibets."
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