Am 1. Oktober 1949 rief Mao Tse Tung in Peking die Volksrepublik China aus. Heute herrschen Maos Erben in der Kommunistischen Partei über das zweitmächtigste Land der Erde.
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Am 1. Oktober 1949 steht Mao Zedong, "ein Mann mit zerknitterter Stoffmütze und abgetragener Kleidung, auf einer Plattform am Tiananmen, am Tor des Himmlischen Friedens, in Peking. Er blickt über den riesigen Platz, der mit kleinen, zu ihm erhobenen Gesichtern erfüllt war - dem Volk. Sie singen Lieder über ihn, sie wünschten ihm in Sprechchören, er möge noch zehntausend Jahre leben. Er selbst ist für die Menge kaum zu sehen. Aber auf der historischen Mauer, dicht unter der Stelle, wo er steht, hängt ein gigantisches Bild seines lächelnden Gesichts."
Diese Zeilen schrieb der 1973 verstorbene ungarische Autor und Journalist Georg Paloczi-Horvath über den 1. Oktober 1949, an dem in Peking Hunderttausende die Geburt einer Nation, eines neuen China feiern. Die Menge zelebriert das Ende des Eroberungskrieges Japans und des Bürgerkriegs, das Ende von Chaos, Demütigung und Schmach, Unterwerfung und Zerstückelung des Landes durch Kolonialmächte.
"Wenn China erwacht, wird die Welt erzittern." Das hatte der nach St. Helena verbannte Napoleon Im Jahre 1817 einer britischen Delegation, bestehend aus Sir Henry Ellis, Sir George Staunton und Earl William Amherst, die gerade von einer erfolglosen diplomatischen Mission aus Peking zurückgekehrt war, prophezeit: War nun, am 1. Oktober 1949, dieser napoleonische Moment gekommen?
"Überall im Land sahen die Menschen der Befreiung mit einer Mischung aus Angst, Hoffnung und Resignation entgegen", schreibt Frank Dikötter in seinem Buch "The Tragedy of Liberation - A History of the Chinese Revolution 1945-1957". Die Großgrundbesitzer wurden enteignet, die Kommunisten verteilten einen Teil des Landes an Kleinbauern, fast zwei Millionen Großgrundbesitzer wurden ermordet. In den Säuberungswellen danach sollen bis Ende 1951 weitere zwei Millionen Menschen ums Leben gekommen sein.
Die Kommunisten feierten überschwänglich ihren Sieg. Der Wiener Arzt, Schriftsteller und Journalist Fritz Jensen, der 1939 als Jude und Kommunist von Wien nach China floh und sich Maos Truppen anschloss, schreibt in seinem 1949 erschienenen Buch "China siegt" bewundernd: "Nun holen die tausend Millionen die industrielle Revolution nach. Nicht als eine technische Revolution, nicht als eine Revolution des Bürgertums, sondern als eine Revolution des ganzen Volkes. (...) Das Antlitz der Welt wird sich verändern. Es wird das Antlitz der Freiheit und der Menschenwürde sein. Das ist die Vision Mao Zedongs." Jensens Prognose von der Industrialisierung Chinas sollte sich erfüllen - wenn auch nicht zuletzt durch Investitionen des Westens. Das Versprechen von Freiheit hingegen ist bis heute nicht eingelöst.
Hundert Blumen welken
In China selbst hatten unterdessen die zynisch als Umerziehungskampagnen bezeichneten Gewaltorgien begonnen, und die Kommunisten schickten sich an, das Land nach ihrer Vision umzubauen. Sie arbeiteten mit einer Mischung aus Gewalt, Drohungen und Versprechungen an der Erschaffung eines "neuen Menschen". 1956 wurden die Inhaber von Firmen und Bauern enteignet und in Kollektive gezwungen, die verpflichtet waren, Reis und Getreide zu festgeschriebenen Preisen an den Staat zu verkaufen. Auf eine Periode der Öffnung unter dem Slogan "Lasst hundert Blumen blühen" im April 1956 folgte eine Periode harter Repression. In seiner "Kampagne gegen Rechts" von 1957 bis 1959 schickte Mao eine halbe Million Intellektuelle in den Gulag.
Als Nächstes trieb Mao sein Volk durch den "Großen Sprung nach vorn", eine desaströse Hauruck-Industrialisierungskampagne, die in einer furchtbaren Hungersnot endete. Das Heer der Bauern sollte nach dem Willen Maos Industrie und Landwirtschaft gleichzeitig umkrempeln und China innerhalb von fünfzehn Jahren wirtschaftlich zu Großbritannien aufschließen. Doch aus dem Traum vom kommunistischen Schlaraffenland wurde nichts. "Töpfe, Pfannen und Werkzeuge wurden in Hinterhöfen in primitiven Hochöfen eingeschmolzen, um die Stahlproduktion des Landes zu erhöhen, denn diese galt als magischer Maßstab für den Fortschritt", schreibt Frank Dikötter in seinem Standardwerk über den großen Sprung nach vorn, "Maos grosser Hunger: Massenmord und Menschenexperiment in China". Rund 36 Millionen Menschen sollen zwischen 1958 und 1962 in China verhungert sein.
Ein paar Jahre später führte Mao sein Land in die Katastrophe der Kulturrevolution, die er im Jahr 1966 entfachte. Während dieser Zeit wurden Dissidenten massenhaft verfolgt, rund hundert Millionen Menschen wurden schikaniert oder öffentlich gedemütigt. Es kam zu Folter, Verschleppungen und Mord. Zigtause wurden in den Selbstmord getrieben, Tempel und Kultureinrichtungen zerstört. Rund zwanzig Millionen Menschen sollen im Terror der Kulturrevolution ums Leben gekommen sein. Der Spuk der Kulturrevolution endete erst 1976 kurz nach dem Tod Maos.
Die Ära von Mao Zedong ging am 9. September 1975 zu Ende, an dem Tag starb der Diktator, Revolutionär und Tyrann 83-jährig in seinem Krankenbett im Regierungsbezirk Zhongnanhai. Der wendige Pragmatiker Deng Xiaoping, den Mao während der Kulturrevolution ins Abseits gedrängt hatte, rückte wieder in den Vordergrund, die Zeit für einen Neuanfang war gekommen. Deong Xiaoping besuchte die USA, um die Beziehungen zu festigen und US-Technologie und Investoren ins Land zu holen. China brauchte die USA als Gegengewicht zur Sowjetunion - genauso wie Washington Peking als Gegengewicht zu Moskau brauchte. Der Grundstein für die neuen Beziehungen zwischen Peking und Washington war 1972 beim Besuch von US-Präsident Richard Nixon in Peking gelegt worden.
Deng Xiaoping öffnet China
China war vor Dengs Öffnungspolitik am Boden: Die Getreideproduktion lag unter jener des Jahres 1957, das Pro-Kopf-Einkommen der chinesischen Bauern - sie machten immerhin achtzig Prozent der Bevölkerung aus - lag bei weniger als vierzig Dollar. Deng leitete im Dezember 1978 eine dramatische Wende ein und legte mit der Reform- und Öffnungspolitik den Grundstein zum Aufstieg seines Landes zu einer ökonomischen Supermacht. Die Schlagwörter dieser Periode: Privatisierungen, Eigenverantwortlichkeit, Markt.
Deng öffnete China für den internationalen Handel, für ausländisches Wissen, ausländische Technologien und ausländische Investitionen. Unter Deng wurde der "Sozialismus mit chinesischen Charakteristika" salonfähig: "Reich zu werden ist glorreich", hieß es plötzlich aus dem Mund von Deng, und damit war der Sino-Kapitalismus geboren.
Dengs China mutierte aber immer mehr zu einem Land des Habgier-Kapitalismus, in dem zwar vieles besser war als in der Vergangenheit, doch Kartellrecht oder Arbeitsschutzbestimmungen gab es auch in Dengs neuem China nicht. Einen Anstieg der Korruption nahm Deng in Kauf, "wenn man die Tür öffnet, dann kommen Fliegen herein", meinte er bitter. Die Fliegen wurden aber unzweifelhaft mehr, zudem schnellte die Inflation nach oben, die hohen Preise sorgten überall im Land für Unzufriedenheit.
Köchelnde Unzufriedenheit
Als die Macht der kommunistischen Regimes in Europa und der Sowjetunion immer weiter erodierte, begannen auch in Peking Studenten am Platz des Himmlischen Friedens für Demokratie und Reformen zu demonstrieren. Am 4. Juni 1989 rollten Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens, die Studentenbewegung wurde blutig niederschlagen, zwischen 300 und 2600 Menschen starben, tausende wurden verletzt.
Nach dem Massaker von 1989 beschloss die KP, nicht die Wirtschaftsreformen zu stoppen, sondern die politischen Reformen anzuhalten. War Kapitalismus in China bis dahin ein Kampfbegriff, entwickelte sich die Marktwirtschaft nun endgültig zum Instrument, die Produktion zu steigern. Chinas Wirtschaft war nun voll auf Reformkurs. Das Resultat? Ein China mit einer immer noch stark wachsenden Wirtschaft und einer repressiven Regierung, so das Urteil der in- und ausländischen Kritiker des Kurses der chinesischen Regierung.
Aber es ist eben nichts erfolgreicher als der Erfolg: 1978 betrug das Durchschnittseinkommen in China weniger als 200 Euro pro Jahr, heute sind es rund 10.500 Euro. Kein anderes Land ist so lange so stark gewachsen: Heute ist China - je nach Maßstab - die größte oder die zweitgrößte Volkswirtschaft des Planeten. Der Wohlstand auf dem Land nahm nach Reformen in der Landwirtschaft zu, nach Schätzungen lebten 1978 etwa 250 Millionen Chinesen oder 28 Prozent der Bevölkerung in Armut, 1985 war die Zahl bereits auf 97 Millionen oder weniger als zehn Prozent gesunken. 120 Millionen Bauern haben sich in Städten angesiedelt.
China ist heute unbestritten die Werkbank der Welt, an der Spitze der wichtigsten Exportnationen der Erde und Halter des größten Devisenschatzes, weltgrößter Markt für Energie, Stahl, Zement und Platin, sowie für Kino, Zigaretten und Mobiltelefone. In China werden zurzeit mehr Hochgeschwindigkeitsbahnkilometer und Flughäfen gebaut als im Rest der Welt zusammen, immer mehr Schulen und Universitäten haben heute europäisches Niveau. Das Land ist seit Jahrzehnten in einer Epoche des Aufbruchs, so wie es die USA nach dem Zweiten Weltkrieg waren.
Chinas Zukunft
Deng Xiaoping und seine Nachfolger haben eine neue Wirtschaftssupermacht geschaffen und das Gleichgewicht vom Atlantik zum Pazifik verschoben. "Es ist nicht möglich, so zu tun, als handele es sich einfach um einen anderen großen Player. Es ist der größte Player in der Geschichte der Menschheit", sagte der 2015 verstorbene frühere Premierminister Singapurs Lee Kuan Yew in einem Interview im Jahr 2011. Stück für Stück ist es Peking gelungen, den Einfluss der Europäer und Amerikaner in der fernöstlichen Hemisphäre zu schwächen. Zurückdrängung von US-Truppen hinter den 38. Breitengrad auf der koreanischen Halbinsel im Koreakrieg, Verdrängung der Franzosen und später der Amerikaner aus Vietnam. Die Rückgabe Hongkongs um Mitternacht des 30. Juni 1997 markiert das Ende der europäischen Präsenz im Pazifik. Bei den Protesten in Hongkong in den vergangenen Monaten hat sich freilich gezeigt, dass die frühere britische Kolonie sich die Eigenständigkeit auch nach der Rückgabe an die Volksrepublik bewahren will.
Nach dem Jahrhundert der Erniedrigung durch westliche Mächte, das mit den Opiumkriegen (1839-1842, 1856-1860) begann, ist China im 21. Jahrhundert zur Weltmacht aufgestiegen.
Die Ära von Präsident Hu Jintao und Premier Wen Jiabao war geprägt von der Zementierung des unausgesprochenen Pakts zwischen der chinesischen Kommunistische Partei (CCP) und der chinesischen Bevölkerung: Die Kommunisten würden für Wohlstand sorgen, die Bevölkerung das Machtmonopol der Partei im Gegenzug nicht infrage stellen: Zwar ist China neben Indien das Land mit der größten Zahl von in Armut lebenden Menschen, zugleich wächst nirgendwo auf der Welt die Zahl der Milliardäre schneller. "In (. . .) China hat das um jeden Preis vorangetriebene Wirtschaftswachstum eine protzerhafte Elite hervorgebracht, aber auch bereits zu alarmierenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten geführt", schreibt der sozialkritische Essayist Pankaj Mishra in seinem Buch "Aus den Ruinen des Empires: Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens".
Das halsbrecherische Wachstum hatte auch seinen Preis für die Umwelt: China ist der weltgrößte Emittent des klimaschädlichen Treibhausgases CO2 und ist für 27,21 Prozent des Kohlendioxidausstoßes verantwortlich (vor den USA mit 14,658 Prozent). Gleichzeitig produziert kein Land der Erde mehr Elektroautos als China, in keinem Land der Welt werden mehr Solar-Panele produziert, wie im Reich der Mitte.
Unter der Führung von Xi Jinping (seit 2012) präsentiert sich ein nach innen repressiveres - Stichwort: Sozialpunktesystem - und nach außen selbstbewusster auftretendes China - Stichwort: Seidenstraßeninitiative.
China und die EU
Europa sieht die Volksrepublik China heute gemeinsam mit den USA als wichtigsten Wirtschaftspartner. Zugleich ist Peking heute eine verlässlichere Stütze des multilateralen Systems als die USA unter Donald Trump. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und China entwickeln sich dennoch asymmetrisch: Das Handelsbilanzdefizit der EU gegenüber China beträgt 184,8 Milliarden Euro. Auch das Wissensdefizit der Europäer ist enorm: China verzeichnet 15,6 Millionen Nächtigungen aus der EU, während 24,8 Millionen Nächtigungen in der EU auf chinesische Touristen zurückzuführen sind. 303.000 chinesische Studenten gehen auf Universitäten in der EU, während nur 71.239 Studenten aus Europa im Reich der Mitte studieren. Immerhin hat die EU im März 2019 eine Revision des Strategiepapiers von 2016 präsentiert, China steht nun - 70 Jahre nach Gründung der Volksrepublik - definitiv im Fokus der EU-Außenpolitik. Es war auch höchste Zeit.
Mao Tse-Tung: (geboren am 26. Dezember 1893 in Shaoshan, gestorben am 9. September 1976 in Peking) war ein chinesischer Revolutionär, Politiker und
Vorsitzender der Chinesischen Kommunistischen Partei. Er rief am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China au und führte China bis zu seinem Tod. Fragt man heute in China nach der Bilanz der Herrschaft Maos, dann
lautete diese offiziell immer noch: 70 Prozent gut, 30 Prozent schlecht. Mao hatte Anteil daran, China vom Joch Japans zu befreien, und wird in der Volksrepublik als Vater der Nation geehrt. Das Mausoleum in Peking
gilt als fixer Pilgerort für die Parteikader. Weniger gern erinnern sich die Mitglieder der Nomenklatura in Peking an die Schrecken der Anti-Rechts-Kampagne, bei der rund 550.000 Menschen verfolgt wurden, oder die Hungersnot von 1958 bis 1961 im Gefolge des "Großen Sprungs nach vorn" mit Millionen von Toten und dem Terror der Kulturrevolution, in der zwischen 500.000 bis zwei Millionen Menschen ums Leben kamen.