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Chinas demografische Bombe

Politik

Die Volksrepublik verfehlte 2022 ihr Konjunkturziel klar. Noch viel bedrohlicher ist aber der drastische Geburtenrückgang.


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Auf den Bahnhöfen der chinesischen Metropolen wirkt alles wie früher. Millionen von Wanderarbeitern drängen sich in den Wartenhallen, um rechtzeitig zum Chinesischen Neujahr, den wichtigsten Feiertagen der Volksrepublik, zurück in ihre Heimatdörfer zu kommen. Handel und Tourismus hoffen nach drei langen Jahren, in denen die Chinesen wegen der massiven Corona-Beschränkungen kaum reisen konnten, auf gute Geschäfte und endlich wieder steigende Umsätze.

Der Aufbruch, der derzeit nicht nur auf den Bahnhöfen zu beobachten ist, wird aber nicht notwendigerweise dort anschließen, wo China vor dem Beginn der Pandemie gestanden ist. So hat die nach den USA zweitgrößte Volkswirtschaft, die 2021 noch um 8,4 Prozent gewachsen ist, das staatliche Planziel im vergangenen Jahr klar verfehlt. Statt der angestrebten 5,5 Prozent legte das BIP laut den am Dienstag vorgelegten Daten des Nationalen Statistikamts nur um 3 Prozent zu. Damit verzeichnete die chinesische Wirtschaft - mit Ausnahme des ersten Corona-Jahres 2020 - das schwächste Wachstum seit 1976. "Für die chinesische Wirtschaft war das Jahr 2022 desaströs. Für ein Industrieland mag ein Wachstum von 3,0 Prozent sehr gut sein - für China fühlt es sich an wie eine Rezession", sagt Chefvolkswirt Thomas Gitzel von der Liechtensteiner VP Bank.

Ein Kind als soziale Norm

Die eigentliche Hiobsbotschaft, die das Statistikamt in Peking an diesem Dienstag verkündet hat, betrifft aber nicht die aktuelle Konjunkturentwicklung, sondern die langfristigen Perspektiven jenes Landes, das nach dem Willen von Staatschef Xi Jinping in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zur globalen Führungsmacht werden soll. Denn erstmals seit der Großen Hungersnot, die vor 60 Jahren auf Maos irregeleitete Industrialisierungskampagne des "Großen Sprungs" folgte, ist Chinas Bevölkerung geschrumpft. Mit 1,41175 Milliarden lebten Ende 2022 um 850.000 Menschen weniger in der Volksrepublik als im Jahr davor. "Chinas demografische und wirtschaftliche Aussichten sind viel düsterer als erwartet", sagt der an der Universität von Wisconsin lehrende Demograf Yi Fuxian, der die nun präsentierten Zahlen auch noch für geschönt hält. "China wird seine Sozial-, Wirtschafts-, Verteidigungs- und Außenpolitik anpassen müssen."

Zum Rückgang trug vor allem die historisch niedrige Geburtenrate von knapp 6,8 Neugeborenen je 1.000 Einwohner bei. So fehlen aufgrund der 1979 eingeführten und erst 2015 wieder kassierten Ein-Kind-Politik nicht nur viele Frauen im gebärfähigen Alter. Vielen Chinesinnen wollen auch trotz der Aufhebung der Beschränkung entweder gar keine Kinder mehr bekommen oder nicht mehr als eines. Nach zwei Generationen, die mit der Ein-Kind-Politik groß geworden sind, sind Kleinfamilien zur tief verinnerlichten sozialen Norm in der Volksrepublik geworden. Gleichzeitig haben die teils enorm hohen Kosten für Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung den Wunsch nach Kindern deutlich kleiner werden lassen.

Zwar versucht die Regierung mittlerweile mit Steuererleichterungen, längerem Mutterschaftsurlaub und finanzieller Unterstützung bei den Wohnkosten der durch die Corona-Pandemie noch einmal befeuerten Entwicklung entgegenzuwirken, doch viele Experten halten es für schwierig bis unmöglich, den Trend noch einmal umzukehren. So gehen die Vereinten Nationen mittlerweile davon aus, dass die chinesische Bevölkerung bis zum Jahr 2050 um 109 Millionen schrumpfen wird - drei Mal so viel wie noch 2019 vorhergesagt.

Pensionen als Problem

Anders als Indien, das China bereits heuer als bevölkerungsreichstes Land ablösen wird, droht der Volksrepublik damit schon in den kommenden Jahren eine massive Überalterung, die nicht nur für den Arbeitsmarkt, sondern vor allem für das Pensionssystem eine enorme Herausforderung darstellen wird. Denn schon jetzt ist jeder fünfte Chinese älter als 60 Jahre, doch derzeit gibt es für jeden über 65-Jährigen, der unterstützt werden muss, noch fünf Beschäftigte zwischen 20 und 64 Jahren. 2050 werden es allerdings nur noch 1,5 Arbeitnehmer sein, die einen Pensionisten erhalten müssen. "Ohne soziales Netz, ohne die Sicherheit der Familie wird sich eine Rentenkrise zu einer humanitären Katastrophe entwickeln", warnt Forscher Yi Fuxian.(rs)