Seit Mao wird in einem exklusiven Badeort über die Zukunft entschieden.
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Peking. "Groß der Regen (...) weiß die Wellen, Gischthimmel. Fischerboote im weiten Meer, verschwinden - wohin?" Diese im klassischen Stil gehaltenen Verse stammen aus der Feder von Mao Zedong. Der Große Vorsitzende schrieb sie im Sommer 1954, als er zum ersten Mal in Beidaihe weilte, um sich von den Strapazen der Revolution zu erholen. Der leidenschaftliche Schwimmer fand offensichtlich Gefallen an der "Riviera am Golf von Bohai", denn ab diesem Zeitpunkt stattete er dem Badeort regelmäßig Besuche ab. Eine Statue mit Blick auf den Ozean im Geziwo-Park erinnert an jenes Gedicht, das er hier, von der stürmischen See inspiriert, verfasst hat.
Auch im August 2012 hat der 70.000-Seelenort hohen Besuch - von dem offiziell jedoch niemand etwas weiß. Seit zwei Wochen trifft sich Chinas Staatsführung in Beidaihe zu geheimen Besprechungen, in denen es um nichts weniger geht als um die Zukunft des Landes. Mit dem Parteitag im Herbst vollzieht sich ein Macht- und Generationenwechsel, wie er in China nur alle zehn Jahre stattfindet. Ein Großteil der Führungselite inklusive Präsident und Premier wird ausgetauscht, und der Skandal um Bo Xilai, den gestürzten Parteichef von Chongqing, hat die Grabenkämpfe innerhalb der Partei offensichtlich gemacht. Nun sollen die Wogen in Beidaihe geglättet werden, um vor der entscheidenden Machtübergabe in ruhigere Gewässer zu segeln.
Die sommerlichen Polittreffen in Beidaihe haben Tradition. Die Führer der KP folgten dem Beispiel der alten Kaiser, die im Sommer vor den unbarmherzigen Temperaturen in Peking in die nahe gelegenen Berge von Chengde flüchteten. Mao mit seiner Schwimmbegeisterung entschied sich für das 250 Kilometer östlich der Hauptstadt gelegene Seebad. Beim Genuss von Meeresfrüchten diskutierte die KP-Elite nach dem Wassersport die Zukunft von Volk und Vaterland, hier wurde beispielsweise die Kollektivierung der Landwirtschaft beschlossen. Von hier aus flüchtete auch Mao-Gefährte Lin Piao 1971 nach einem gescheiterten Putschversuch per Flugzeug in Richtung UdSSR, die er jedoch nie erreichte - er stürzte unter nie geklärten Umständen über der Mongolei ab. Bis heute hält sich die Legende hartnäckig, Premierminister Zhou Enlai hätte ihn persönlich in seiner Privatvilla erwürgt. Doch viel drang von den Geschehnissen in Beidaihe nie nach außen. Höchstens Symbolisches: Von Mao bis Deng Xiaoping haben Chinas Führer die Öffentlichkeit stets über Fotos wissen lassen, dass sie auch in stürmischer See obenauf schwimmen. Ansonsten wurde in den weitläufig abgesperrten Parkanlagen weitgehend ungestört und unbemerkt große Politik gemacht.
Es war der aktuelle Staatspräsident Hu Jintao, der die alljährlichen Treffen 2003 vorläufig stoppte. Einerseits wollte er in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck glamouröser Elitetreffen erwecken, stattdessen sollte ein offenerer, nüchterner Arbeitsstil demonstriert werden. Andererseits konnte der damals frisch installierte Präsident dadurch vor allem die Altkader ruhigstellen - die Politrentner haben in Beidaihe nach wie vor ihre Villen und jede Menge Einfluss. Sie sind daher wohl auch der Grund, warum die Treffen im Vorfeld des Parteitages wieder hier stattfinden, denn bei den Nachbesetzungen der zu vergebenen Posten hat vor allem die Gruppe um Alt-Präsident Jiang Zemin ein gewichtiges Wort mitzureden. Doch von all diesen Vorgängen bekommt die Öffentlichkeit in China nichts mit, denn zumindest dort ist das Treffen tatsächlich geheim. "Ach, der Präsident ist hier? Nein, das wusste ich nicht", zeigt sich etwa eine Touristin am Strand verblüfft. Auf ein erhöhtes Aufkommen von Politprominenz deutet nur das massive Aufgebot der Polizei hin, der gesamte Ort hat sich de facto in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Schon bei der Einfahrt wird jeder Besucher genau kontrolliert, an den Straßen stehen alle 50 Meter Polizisten, die unter orangen Sonnenschirmen Wache schieben. Allerdings zurückhaltend - es liegt der diskretionsbewussten Partei viel daran, nicht mehr Aufmerksamkeit als notwendig zu erregen. Die Sicherheitsleute sollen in erster Linie dafür sorgen, dass die Welt der Kader streng von jener der Touristen getrennt bleibt.
Die Chancen, einen der zahlreichen Würdenträger persönlich zu Gesicht zu bekommen, tendieren daher gegen null. Wenn sie anreisen, wird die Strecke zwischen Bahnhof und Parteivillen weitläufig abgesperrt, die exklusiven Parkanlagen mit ihren Gästehäusern und unterirdischen Strandzugängen sind ohnehin eine Verbotene Stadt. Dazwischen liegt jenes Beidaihe, das mit seinen atemberaubenden Stilverbrechen und der ungezwungenen Urlaubsatmosphäre eher an Lignano erinnert als an einen Ort, an dem chinesische Geschichte geschrieben wird.