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Chinas Probleme mit dem Wachstum

Von Bernhard Seyringer

Wirtschaft

Das für heuer gesteckte Ziel von plus 5,5 Prozent wackelt - viele Betriebe sperren zu, die Arbeitslosigkeit steigt.


Der 20. Nationale Parteitag der KP Chinas war für viele Beobachter eine echte Überraschung. Generalsekretär Xi Jinping war es gelungen, den Ständigen Ausschuss des Politbüros ausschließlich mit seinen Getreuen zu besetzen. Eine klare Machtdemonstration. Xi musste Tatsachen schaffen. Er konnte nicht auf große Zustimmung infolge seiner Bilanz hoffen. Die ist alles andere als überzeugend: Im zweiten Quartal dieses Jahres ist die chinesische Wirtschaft gerade um 0,4 Prozent gewachsen, das zweitschlechteste Wachstum seit 30 Jahren. Und das, obwohl seit Mai 2020 von der Superwaffe Infrastrukturinvestitionen intensiv Gebrauch gemacht wurde. Generalsekretär Xi hatte sämtliche Wirtschaftsplaner angewiesen, Maßnahmen zu ergreifen, um die zu Jahresbeginn abgegebene Wachstumsprognose von 5,5 Prozent Wirtschaftswachstum zu halten.

Viele Betriebsschließungen

Der Instrumentenkoffer der Wirtschaftsplaner in Peking dürfte inzwischen ziemlich leer sein, denn das Ankurbeln der Wirtschaft hat nicht in erwartetem Umfang funktioniert. Rund 460.000 Klein- und Mittelbetriebe haben im ersten Quartal dieses Jahres den Betrieb eingestellt und laut der Nationalen Statistikbehörde stieg die Arbeitslosenzahl der 16- bis 42-Jährigen auf fast 20 Prozent. Die Immobilienpreise in mehr als 70 Städten sind ins Bodenlose gefallen, und faule Kredit belaufen sich bereits auf 297 Milliarden US-Dollar (gut 301 Milliarden Euro). In den Provinzen Anhui, Henan und Liaoning wurden sogar Banken gestürmt, da Sparer um ihre Einlagen fürchteten. Viele Banken haben Quoten eingeführt, die maximale Abhebungen von 1.000 Yuan (148 US-Dollar) pro Tag ermöglichen. Der Export scheint der einzige Bereich, in dem sich die chinesische Wirtschaft von der Covid-Politik der Regierung zu erholen scheint. Er ist um fast 18 Prozent im Jahresvergleich angewachsen. Wobei das Anwachsen größtenteils der Rekordinflation in den USA und der EU zuzuschreiben ist.

Strategische Industriepolitik

Xis wichtigste wirtschaftspolitische Weichenstellung nach zwei Amtsperioden war die Konzentration auf die Strategische Industriepolitik. Er hat ein unübersichtliches Netzwerk aus Institutionen und Fonds geschaffen, die auf die Entwicklung von Schlüsseltechnologien abzielen. Die bekanntesten sind der 2014 geschaffene Fonds zur Förderung der Chip-Produktion und die "Made in China 2025"-Strategie eine Blaupause von Deutschlands "Industrie 4.0". Im Jahr 2015 existierten 297 regierungsgeführte Fonds mit einer Gesamtdotierung von 1,5 Billionen Yuan, Ende 2020 hat sich diese Zahl auf fast 1.900 Fonds mit der zehnfachen Gesamtdotierung unter Führung von Ministerien oder Provinzbehörden, erhöht. Die großen Strategien waren aber bisher nicht sonderlich erfolgreich.

Die "Modernisierung chinesischer Prägung", die Xi erstmals am Parteitag erwähnte, ist eine Anlehnung an Deng Xiaopings "Sozialismus chinesischer Prägung". Xi wollte damit unterstreichen, dass in Zukunft nur marxistisch-inspirierte Konzepte zur Gestaltung chinesischer Politik zur Anwendung kommen werden. Betont wurden die im 14. Fünfjahresplan verankerten Prinzipien des "Dualen Kreislaufs" und das Streben nach "Autarkie", der Reduktion der Technologieabhängigkeit vom Westen, das Vorantreiben der "Common Prosperity (CP)"-Strategie, sowie die Vorbereitung der Menschen für eine "komplexe und herausfordernde globale Situation". Dass die Rolle maoistischer Ideologie deutlich zunehmen wird, zeichnete sich bereits ab: "Autarkie", "Dualer Kreislauf" und "Common Prosperity" sind alt-maoistische Begriffe und seit dem Vorjahr erneut im Umlauf. Xi hatte die CP-Strategie als Reaktion auf "Ungleiche Verteilung und Entwicklung" in der Gesellschaft ausgerufen. Damit ist aber nicht, wie manche westliche Analysten vermuten, ein Ausbau des Wohlfahrtsstaates gemeint. Vielmehr wird damit seit Mao Zedong die vollständige Zentralisierung und Verstaatlichung des Wirtschaftssektors beschrieben, um gesellschaftliche Fehlentwicklungen besser steuern zu können.

Kurswechsel zu erwarten

He Lifeng, der bisherige Leiter der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC), wird aller Voraussicht nach die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik in den kommenden fünf Jahren übernehmen. Mit He hat Xi einen langjährigen Vertrauten ausgewählt, der nicht wie sein Vorgänger Liu He in Harvard ausgebildet wurde und in der internationalen Finanzwelt Karriere machte. Liu war Xis wichtigster Wirtschaftsberater und das Mastermind hinter dem 14. Fünfjahresplan. Dass neben ihm auch die weiteren Wirtschaftsberater, wie der Gouverneur der Zentralbank, Yi Gang, und der Leiter der Bankenregulierungsbehörde, Guo Shuqing, ausscheiden, lässt einen Kurswechsel erwarten.

He Lifeng war bisher für die Erstellung der Fünfjahrespläne verantwortlich und wird im Rahmen des 14. Nationalen Volkskongresses im März 2023 zum Vize-Premier gewählt werden. Auch die Funktion des Premierministers wird von einem Xi-Vertrauten übernommen: Li Qiang, bisher Parteisekretär in Shanghai, wird sich an Xis Vorgaben orientieren. Insgesamt sind die Nationalen Parteitage der KP nicht vordergründig für wirtschaftspolitische Themen angedacht. Für Ankündigungen und Neuausrichtungen sind dafür das Dritte und das Fünfte Plenum im November 2023 und März 2026 vorgesehen.

Nächster G20-Gipfel als Chance

Niemand Geringerer als Henry Kissinger hatte vor Asienexperten Anfang Oktober darüber spekuliert, dass China infolge seiner diplomatischen Allianz mit Russland viel von seiner internationalen Reputation eingebüßt hat und daher die Beziehungen zu den USA und zur EU zumindest stabilisieren möchte. Es handelt sich immerhin um die wichtigsten Handelspartner. Kissinger meinte, das Treffen zwischen US-Präsident Joe Biden und Xi am Rande des G20-Gipfels in Bali Mitte November würde hierfür eine erste Gelegenheit bieten.

Natürlich hätte das eine gewisse Logik. Aber der 20. Parteitag signalisierte das Gegenteil. Staatenlenker wie Xi oder Putin denken nicht wie Handelsbürokraten. Derzeit besteht sogar die Gefahr, dass Xi im Fall einer Ausweitung der Wirtschaftskrise in China eine kontrollierte Konfrontation in der Straße von Taiwan oder im Südchinesischen Meer sucht. Nationalistischer Überschwang wäre das Einzige, was von wirtschaftlicher Instabilität zuverlässig ablenken würde. Außerdem wäre damit eine willkommene Verhängung des Kriegsrechts verbunden. Xi könnte sich dabei wohl auf Russland, Nordkorea, Thailand und Myanmar verlassen.