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Chinas soziale Verwerfungen

Von Georg Friesenbichler

Politik

Chinas Wohlstand wächst - aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung profitiert davon. Vor allem jene 60 Prozent der Bevölkerung, die am Land leben, haben von dem enormen Wirtschaftswachstum wenig mitbekommen. Zwar ist auch das Einkommen der Landbevölkerung gestiegen, berichten die offiziellen Medien, aber jenes der Bewohner der boomenden Wirtschaftszentren an der Küste steigt noch viel stärker. Die Kluft zwischen Land und Stadt wächst, und damit die Unzufriedenheit.


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Der Befund, den Staatspräsident Hu Jintao seiner KP an ihrem Parteitag vorlegt, ist nicht neu. Schon beim alljährlich stattfindenden Volkskongress hat er ähnliche Worte gefunden. Und es ist ja auch nicht so, dass die Monopol-Staatsführung nichts unternommen hätte, um die Situation zu ändern.

So wurden erstmals die Steuern auf landwirtschaftliche Produkte abgeschafft, die Landwirtschaft wurde stärker subventioniert, den ländlichen Schulen wird Geld zugeschossen. Und um das darniederliegende Gesundheitssystem zu reformieren, wurde erstmals eine Art Sozialversicherung eingeführt - bei Zahlung einer Prämie wird ein Teil der Spitalskosten refundiert.

Das System hat allerdings seine Lücken und Tücken. Denn es profitieren vor allem die besser verdienenden Bauern, für die ärmsten sind schon die bescheidenen Prämien ein arger Einkommensverlust. Noch dazu müssen sie die Spitalskosten ja vorfinanzieren - und Gebühren und Medizinkauf, die einen guten Teil des Einkommens der Spitäler ausmachen, treiben sie oft tief in die Verschuldung.

Der Wegfall der landwirtschaftlichen Steuern macht wiederum den Regionalregierungen und den Gemeinden zu schaffen - denn sie müssen einen Teil der Kosten übernehmen, die durch die Reformen in Gesundheits- und Bildungswesen entstanden sind. Damit sind sie oft überfordert.

Aber auch die Ansiedlung von herkömmlicher Industrieproduktion erzeugt Probleme. Lokale Funktionäre und Beamte bereichern sich an dem Verkauf von Bauernland, das noch immer nicht Privateigentum sein darf. Und wo Fabriken stehen, wird zugunsten möglichst hoher Produktivität keinerlei Rücksicht auf die Umwelt genommen. Laut Schätzungen der Weltbank sterben in China jedes Jahr 460.000 Menschen an den Folgen verseuchter Luft oder verschmutzten Wassers.

Parteichef Hu hat die durch die Umweltverschmutzung verursachten Kosten angesprochen: Sie betragen laut unterschiedlichen Schätzungen zwischen 50 Milliarden Euro - das wären rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts - und 150 Milliarden.

All diese Umstände führen zu sozialen Verwerfungen - zu Unruhen in den Provinzen, aber auch zur Flucht vieler vom Land in die Stadt. Dabei geraten die geschätzten 150 Millionen Menschen, die ihr Heil in den Ballungszentren suchen, oft vom Regen in die Traufe. Denn sie, die meist illegal in der Stadt sind, werden oft noch als ländliche Bewohner geführt - und fallen damit sowohl um die Unterstützung, die ihren Herkunftsgebieten nun gewährt wird, als auch um die wesentlich höheren städtischen Wohlfahrtsleistungen um.

Dem Ziel einer "harmonischen Gesellschaft", das Hu Jintao in die Parteistatuten schreiben möchte, widerspricht auch die Alleinherrschaft einer Partei, deren große und kleine Funktionäre sich an dem System bereichern. Zwar ist eine Demokratie westlicher Prägung nur schwer vorstellbar - China-Experten weisen daraufhin, dass das System gegenseitiger Abhängigkeiten und damit der Hang zu Nepotismus in dem Land eine jahrtausendealte Tradition hat. Die Hierarchie kann aber nur funktionieren, solange ihr die Bevölkerung einigermaßen vertraut. Beamtenwillkür, Korruption und Einkommensunterschiede haben für viele das erträgliche Maß aber schon überschritten. Das Rezept dagegen ist Hu schuldig geblieben.