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China tritt auf die Bremse: Der Hochgeschwindigkeitszug CRH soll künftig langsamer fahren - mit maximal 300 statt 350 km/h Spitze. Die Ankündigung von Bahnminister Sheng Guangzu am Mittwoch hatte durchaus Symbolcharakter: Ein Bahnunglück in Ostchina, bei dem Ende Juli 39 Menschen ums Leben gekommen waren, verdeutlichte auch dem letzten Skeptiker, dass der Wirtschaftskurs nach der alleinigen Devise „höher, schneller, weiter” nicht beliebig fortgesetzt werden kann. Zumindest nicht ohne einen hohen Preis.
China steigt auf die Bremse: Das gilt mittlerweile nicht nur für die Bahn, sondern für das Wachstum, die Kreditvergabe, den Rohstoffhunger sowie die Umweltbelastung durch die Industrie.
Dieser gewaltige Umbau des Wirtschaftssystems von „mehr” zu „besser” ist für Peking vordringlicher denn je: Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat nämlich offengelegt, dass sich die Chinesen just aus Angst davor, von anderen abhängig zu werden (siehe Interview Seite 6), in eine Sackgasse manövriert haben.
Der bedrohte Schatz
Chinas Wirtschaft ist heute durch seine Exportlastigkeit so stark an den Westen gekoppelt wie noch nie. Bricht in den USA und in Europa die Nachfrage ein, bekommt das Reich der Mitte das zu spüren. Und jene Reichtümer, die Peking mit seinen Exportüberschüssen angehäuft hat, sind auf Gedeih und Verderb an die Geldpolitik der USA gekoppelt.
Devisen im Wert von 3,2 Billionen Dollar, US-Staatsanleihen im Wert von 1,26 Billionen Dollar: Sinken die Kurse des Dollars oder der US-Papiere, schrumpft der Schatz der Chinesen mit.
Trotzdem können sie nicht von heute auf morgen aufhören, ausländische Devisen aufzukaufen. Damit müssten sie nämlich (wie von den USA vehement gefordert) die Landeswährung Yuan (Renminbi) aufwerten. Diesen Schritt scheut China, weil es der Exportkraft schaden würde.
Auf Dauer dürfte der unterbewertete Yuan aber ohnehin nicht zu halten sein: Schließlich will China von der Droge Billigexporte loskommen und die Binnennachfrage ankurbeln, was die Abhängigkeit von der Weltkonjunktur reduzieren würde. Darin steckt ein politisches Risiko: Eine selbstbewusste, kaufkräftige Mittelschicht könnte unbotmäßige Fragen stellen und mehr Rechte einfordern.
Inflation außer Kontrolle
Kann es Peking unter diesen Prämissen schaffen, einen Einbruch, die gefürchtete „harte Landung”, zu vermeiden? Laut Experten braucht der asiatische Gigant mindestens acht Prozent Wachstum, um den Massen an Wanderarbeitern und Jugendlichen ausreichend neue Jobs bieten zu können.
Vor nichts hat die Führung so viel Angst wie vor hoher Arbeitslosigkeit und der Teuerung insbesondere der Lebensmittel. Beides kann in dem 1,3-Milliarden-Einwohner-Land nämlich spontan Revolten und Aufstände auslösen - ein Alptraum für die Regierung.
Die bisherigen Bemühungen, die Teuerung in den Griff zu kriegen, waren nur bedingt erfolgreich: Die Zentralbank hat zigfach die Zinsen und die Kapitalanforderungen an die Banken erhöht, um die Kreditmenge zu drosseln. Dennoch kletterte die Inflation im Juli auf 6,5 Prozent - obwohl sich das Wachstum verlangsamt und der Preisdruck nachlassen sollte. Lebensmittel kosten 15 Prozent, Schweinefleisch fast 60 Prozent mehr als noch 2010.
Die Löhne in den Fabriken sind ebenfalls massiv gestiegen - seit 1999 um bis zu 300 Prozent. Viele Produzenten bauen ihre Fertigungsstraßen deshalb in neuen Billiglohnländern wie Vietnam auf. Elektronikproduzent Foxconn, der traurige Berühmtheit durch eine Suizidwelle seiner Arbeiter erlangt hat, setzt auf Roboter: Die sind billiger und bringen sich nicht um.
Die Modernisierung geht zwar Hand in Hand mit Chinas Bestreben, die Wertschöpfung der Industrie zu erhöhen und High-tech statt Billigspielzeug zu produzieren. Damit sinkt aber der Bedarf an unqualifizierten Arbeitern. Stattdessen werden gut ausgebildete und innovative Köpfe benötigt. Darauf ist die Volksrepublik nur schlecht vorbereitet.
Pekings Strategen müssen also etliche Bälle gleichzeitig in der Luft halten. Ob dieses Kunststück reibungslos funktioniert, steht in den Sternen; ganz zu schweigen von den langfristigen Sprengfallen: Wegen der Ein-Kind-Politik droht China allmählich zu vergreisen. Und in den Bankbilanzen sowie bei lokalen Regierungen schlummern gewaltige Kreditrisiken.