Evergrande stellt für die Führung in Peking eine Gratwanderung dar. Lässt sie von ihren Wachstumszielen ab?
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Der tiefe Fall des Immobilienkonzerns Evergrande ist für Chinas Führung eine Gratwanderung. Eilt man dem strauchelnden Konzern zu Hilfe, signalisiert man, dass Unternehmen trotz maßloser Verschuldung nicht fallen gelassen werden. Womit die Strategie prolongiert würde, das BIP-Wachstum als oberstes Ziel zu sehen - zum Preis einer bedrohlichen Verschuldensquote vieler Unternehmen. Statuiert man aber an Evergrande ein Exempel und verweigert dem Konzern die staatliche Hilfe, läuft man Gefahr, einen Dominoeffekt auszulösen und die Märkte in noch ärgere Turbulenzen als in den vergangenen Wochen zu stürzen.
Seit Jahren lautet das oberste Ziel für die chinesische Wirtschaft, bestimmte politisch festgelegte BIP-Wachstumsziele zu erreichen. Dabei spielte es keine Rolle, ob bestimmte Wirtschaftszweige oder Unternehmen profitabel sind oder ob Bauprojekte einen sinnvollen wirtschaftlichen Nutzen haben. Wichtig ist die Höhe des Wirtschaftswachstums, Produktivität und Verschuldung hin oder her. Sogar eigentlich nicht überlebensfähige Zombiefirmen werden vom Staat über Wasser gehalten.
Eine riesige Immobilienblase
Eine Folge dieser Wirtschaftspolitik ist eine riesige Immobilienblase, die sich nun im Fall von Evergrande allzu deutlich manifestiert. Ihre Wurzeln reichen ins Jahr 2008 zurück. Die globale Finanzkrise traf nicht nur die entwickelten Länder hart, sondern verpasste auch der chinesischen Wirtschaftsleistung einen massiven Dämpfer. Die Regierung in China versuchte gegenzusteuern, indem sie massive Konjunkturpakete auf den Weg brachte und die Kreditaufnahme erleichterte.
Als Konsequenz daraus stiegen die Grundstückspreise, das Geschäft mit der Errichtung von Wohnungen wurde immer attraktiver. Dies führte zu einer regen Bautätigkeit von Immobilienentwicklern wie Evergrande, dessen Geschäftsmodell auf einer massiven Verschuldung basierte: Evergrande hatte nämlich nicht nur hohe Kredite bei den Banken aufgenommen, sondern verkaufte viele Wohneinheiten Monate und sogar Jahre vor der Fertigstellung an seine Kunden und kassierte vorab hohe Anzahlungen und teils sogar schon die vollen Preise. Auf der anderen Seite wurden Zulieferer nicht mit Bargeld bezahlt, wodurch sich im Laufe der Zeit gewaltige Forderungen der zuarbeitenden Betriebe bildeten.
Die Zahlungsunfähigkeit des Immobilienriesen birgt nun eine Ansteckungsgefahr auf andere Branchen. Die Insolvenz von Evergrande würde auch rund drei Millionen Mitarbeiter des Konzerns arbeitslos machen, und fast zwei Millionen Immobilienkäufer würden ihre Anzahlungen auf ihre unfertigen Wohnungen verlieren. Aufgebaut auf einem immer größer werdenden Schuldenberg ist mit dem Immobiliensektor ein wichtiger Wirtschaftszweig entstanden, wenn nicht sogar der einflussreichste. Die Branche trägt zu rund 25 Prozent des chinesischen BIP bei. Gleichzeitig erreichte der Leerstand von Häusern und Wohnungen Höchststände. Geschätzt wird, dass in den größeren Städten Chinas 20 bis 25 Prozent der gesamten Wohnungen leer stehen.
Drei rote Linien
Um den ausufernden Risiken Herr zu werden, schuf die Regierung heuer drei rote Linien für Immobilienentwickler: Erstens darf das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten 70 Prozent nicht überschreiten, zweitens darf der Nettoverschuldungsgrad nicht höher als 100 Prozent sein, drittens darf das Verhältnis von liquiden Mitteln zu kurzfristigen Verbindlichkeiten den Faktor 1 nicht unterschreiten. Damit wollte man einerseits die wachsende Verschuldung des Immobiliensektors eindämmen und andererseits gegen die Spekulationswut der Immobilienentwickler vorgehen. Diese agierten aber weiter völlig unbehelligt, da sie hofften, zur Not in letzter Minute aufgefangen zu werden.
Diese Spekulation könnte - nicht zuletzt für Evergrande - aufgehen, denn das politische System in China sieht seine Reputation darin, keine Unsicherheit an den Regierungsmethoden aufkommen zu lassen. Auf lange Sicht würde dies den Markt wieder stabilisieren, auch wenn im aktuellen Fall Evergrande kurzfristig aufgrund der Verflechtungen mit Banken, Zulieferern und weiteren Institutionen auf den chinesischen Kreditmärkten schmerzliche Verwerfungen entstehen würden.
Erst wenn sich China entschließt, unproduktive Tätigkeiten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf Kosten des BIP-Wachstums herauszurechnen, wäre das mächtige Reich der Mitte realistischen Wachstumszielen näher. Es wird also spannend bleiben, welchen Weg die Regierung in den nächsten Wochen einschlägt. Die Stabilisierung der Situation scheint derzeit der wahrscheinlichste Weg: So könnten die staatlichen Aufsichtsbehörden mit Leichtigkeit Druck auf Kreditgeber und Gläubiger ausüben, Kredite an Evergrande zu verlängern. Peking wird sich aber tiefergehende Schritte überlegen müssen, um das Verschuldungsproblem grundsätzlich zu bekämpfen.
Eine globale Krise wie 2008/2009, als die Pleite von Lehman Brothers eine Insolvenzwelle auslöste, dürfte aber nicht sehr wahrscheinlich sein. Nicht nur, weil Evergrande 90 Prozent seines Geschäfts in China betreibt, sondern weil das chinesische Finanzsystem noch immer weitgehend abgeschottet ist, was eine hohe Anzahl an ausländischen Gläubigern ausschließen dürfte.