Paris - Mit der Attacke auf seine Tochter Claude sind die Untersuchungsrichter für Jacques Chirac endgültig zu weit gegangen. "Das ist skandalös, ich bin tief verletzt", donnerte der konservative französische Staatschef beim TV-Auftritt am Nationalfeiertag. Die "Autorität des Staates" werde untergraben - und die Regierung seines sozialistischen Widersachers Lionel Jospin bleibe untätig.
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Nachdem die 38-jährige Claude Chirac, die ihrem Vater als Kommunikationsberaterin zur Seite steht, in die "Reiseaffäre" hineingezogen wurde, verschlechterte sich das politische Klima in Paris drastisch. "Chirac ist mit der schwersten persönlichen Krise seit seinem Einzug in den Elysée-Palast konfrontiert", stellte das liberal-konservative Wochenmagazin "L'Express" fest. Aber Chiracs Vertraute wissen: Wenn der Präsident in die Enge getrieben wird, dann schlägt er zurück.
Fast anderthalb Stunden hatte Chirac am Samstag Gelegenheit, dem französischen Wahlvolk seine Version zur Reiseaffäre und seine Visionen für die politische Zukunft nahezubringen. Er sei "sehr glücklich", sich direkt an die Wähler wenden zu können, bedankte sich der 68-Jährige bei den Interviewern.
Wähler uninteressiert
Und obwohl Umfragen zeigen, dass die meisten Wähler von den Affären nichts wissen wollen, wurde ein Drittel der Zeit auf dieses Thema verwendet. Chirac gestand, dass er in den 90er Jahren diverse Reisen für Angehörige und Mitarbeiter bar bezahlte. Die Summe von 2,4 Millionen Franc (365.878 Euro/5,03 Mill. S), die in den Ermittlungsakten steht, sei aber völlig überzogen. Weder nannte Chirac eine andere Summe, noch die Herkunft der Mittel. Dass die Reisen - auch für seine Tochter - bar bezahlt wurden, erklärte er pauschal mit den Erfordernissen von "Sicherheit" und "Diskretion". Neun Monate vor den Präsidentschaftwahlen, bei denen sich Chirac höchstwahrscheinlich gegen Jospin behaupten muss, blies der Neogaullist auf den entscheidenden innenpolitischen Feldern zur Attacke: Die steigende Kriminalität sei "völlig unerträglich", und in der Wirtschaftspolitik seien die "Früchte des Wachstums" vergeudet worden. Chirac weiß sich hier auf sicherem Terrain. Meinungsumfragen bescheinigen ihm seit seiner Wahl ins Präsidentenamt vor sechs Jahren eine gleichbleibend hohe Popularität. Der politische Enkel von General Charles de Gaulle nutzt seinen Vertrauensvorschuss.
So stellte sich der Präsident als eigentlicher Garant des Staates dar. Schroff wies er nochmals die Erwägung zurück, die Untersuchungsrichter könnten ihn selbst zu den Affären vernehmen. Er verkörpere schließlich die "Kontinuität des Staates" und könne deshalb nicht von Untersuchungsrichtern vernommen werden.
Allerdings gestand er zu, dass an der Spitze dieses Staates seit Jahrzehnten Gepflogenheiten herrschen, die mit den demokratischen Standards in anderen Staaten nicht mithalten können. So plädierte Chirac erstmals für die Abschaffung der umstrittenen Sonderfonds, aus denen offenbar auch die Barmittel für die Reisen stammten.
Munition für die Gegner
Da Chirac in die Reiseaffäre keine Klarheit brachte, wird seinen Gegnern in den kommenden Monaten die Munition ebenfalls nicht ausgehen. In dem Interview des Staatschefs sei "die Stimme des Niedergangs" zum Ausdruck gekommen, meinte der frühere sozialistische Innenminister Jean-Pierre Chevènement. Gefährlicher sind für Chirac jedoch Anfeindungen aus dem bürgerlichen Lager. Wiederholt tat sich auf diesem Feld der liberale Politiker Alain Madelin hervor. Zur Reiseaffäre bemerkt er süffisant, über Frankreich wehe "ein Hauch von Ancien Régime" - nicht gerade ein Plädoyer für die Wiederwahl Chiracs.