Paris - Der Rechtsruck bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich könnte auch das Verhältnis zu Deutschland und die Europapolitik in den nächsten Jahren nachhaltig beeinflussen. Präsident Jacques Chirac werde gegenüber Brüssel und Berlin "weniger politischen Mut und Kompromissfähigkeit" aufbringen, erwartet der Vizedirektor des Deutsch-Französischen Instituts, Henrik Uterwedde. Der Politologe Henri Menudier ergänzt: "Ich fürchte, er wird sich hauptsächlich auf die Verteidigung nationaler Interessen verlegen."
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Einerseits muss der Neogaullist Rücksicht auf die Millionen Franzosen nehmen, die Jean-Marie Le Pen und dessen europafeindliche Parolen gewählt haben. Zudem wird das Ergebnis vom Sonntag nichts über die Zustimmung zu Chirac aussagen, sondern lediglich etwas über die Ablehnung des Rechtsextremismus. "Ganz egal mit welcher Mehrheit Chirac wiedergewählt wird: Seine politische und moralische Autorität wird erheblich geschwächt sein", sagt Menudier. Dabei wird in den nächsten Jahren auf europäischer Ebene viel Mut und Kompromissbereitschaft von Nöten sein. Einerseits bastelt der Konvent am Entwurf einer grundlegenden EU-Reform, andererseits steht mit der Erweiterung ein gnadenloses Feilschen über die gemeinsame Agrarpolitik an.
Gerade in diesem Punkt müsste Chirac eigentlich über seinen Schatten springen, um dem Ganzen zum Erfolg zu verhelfen, betont Uterwedde. Doch in seiner sprunghaft-opportunistischen Art schreckte der französische Präsident schon kurz nach seinem Amtsantritt nicht davor zurück, das Ansehen einer wichtigen europäischen Institution zu Gunsten nationaler Interessen zu brüskieren. "1995 peitschte er seinen Notenbankchef Jean-Claude Trichet als Nachfolger von EZB-Präsident Wim Duisenberg durch", erinnert Uterwedde.
In der Agrarpolitik, wo Chirac schon früher als harter Lobbyist aufgetreten ist, steuern Paris und Berlin auf Kollisionskurs. Dagegen kann eine eher nationale Interessen verfolgende Politik die beiden Partner auch gegen Brüssel einen. "Chirac würde keine Sekunde zögern, wegen des EU-Stabilitätspakts einen Streit mit der Kommission vom Zaun zu brechen", vermutet Uterwedde. Auch der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder machte bereits in Brüssel gegen eine Mahnung wegen des Haushaltsdefizits mobil.