Der Psychiater und Psychotherapeut Christian Probst erklärt, warum wir in der zweiten Dezemberhälfte in einen emotionalen Ausnahmezustand geraten, uns nicht vor dem Egoismus-Vorwurf fürchten sollen, und wie das Fest trotzdem gelingen kann.
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"Wiener Zeitung": Herr Probst, Weihnachten gilt als eine Zeit, in der Psychiater Hochbetrieb haben. Können Sie das aus eigener Praxis bestätigen?
Christian Probst: Ich kann das nicht empirisch belegen, Tatsache ist aber, dass es diese Häufung lange Zeit gab. Inzwischen sind die ausgeprägten Spitzen weg. Was aber eher daran liegt, dass die Belastungen über das Jahr gesehen mehr geworden sind. Die spezifischen Schwierigkeiten, die mit Weihnachten verbunden sind, gibt es natürlich trotzdem.
Und die wären?
Das lässt sich gut mit einem Satz zusammenfassen, den wir in der Weihnachtszeit oft hören, im Fernsehen, bei "Licht ins Dunkel". Da heißt es: Ist da jemand? Es ist die Frage, ob es jemanden gibt, der mit mir in Beziehung tritt, Gefühle in mir auslöst, jemanden, dem ich mich zugehörig fühlen kann. In der christlichen Tradition ist das Christus, der Heilsbringer, der Erlöser, dessen Geburt zu Weihnachten gefeiert wird. In dieser Zeit werden für viele Menschen aber auch schmerzhafte Phänomene wie die eigene Einsamkeit, Lieblosigkeit, Beziehungsarmut spürbar.
Offenbar schmerzen diese Gefühle zu Weihnachten aber mehr als sonst unterm Jahr.
Dafür sind verschiedene Faktoren verantwortlich. Da gibt es die soziale Wirklichkeit, die Weihnachten als eine Zeit definiert, in der wir aus dem Alltag heraustreten, um ein schönes, besinnliches Fest im Kreis der Familie zu feiern. Das sind Anforderungen, die verlässlich wiederkommen und die diese Jahreszeit ganz stark mit der Frage nach Beziehungen, nach einem funktionierenden Sozialgefüge verknüpfen. Da tauchen Schwächen, Ängste, Erinnerungen an Verluste stärker auf als sonst. Es sind vielleicht die ersten Weihnachten ohne die verstorbene Mutter oder den verstorbenen Partner. Oder ohne den Papa, weil sich die Eltern scheiden haben lassen.
Weihnachten ist eine Zeit der emotionalen Verdichtung und die Frage "Wie wird es uns gehen unter dem Weihnachtsbaum?" kann auch Angst auslösen.
Zugleich gibt es den Druck, dass es uns unter dem Weihnachtsbaum gut gehen soll.
Auch den gibt es. Es gibt das "Ho, ho, ho", das uns das Gefühl geben soll, das alles machbar ist. Es gibt den Auftrag, Glück zu kaufen, Glück zu konsumieren. Und wenn das nicht gelingen will, dann muss man sich eben am Punschstand einen antrinken, damit sich die emotionale Rührseligkeit einstellt, damit ich mich berühren lassen kann. Weihnachten ist aber auch aus rein biologischem Grund schwierig: Es ist eine Jahreszeit, die viele Menschen als grau, kalt, trostlos empfinden. Es ist ständig feucht, was man auch anzieht, ist falsch, weil man entweder drinnen schwitzt oder draußen friert. Und das mangelnde Licht macht uns zusätzlich empfindlich für depressives Erleben, weil die Produktion von bestimmten Botenstoffen im Gehirn zurückgeht.
Und noch einen Punkt dürfen wir nicht vergessen: Die meisten Menschen konsumieren ihren großen Urlaub im Sommer. Vom Sommer bis Weihnachten gibt es eine Durststrecke, viele sind zu Adventbeginn bereits in einer chronifizierten Überlastung.
Wenn ich mich dem rundherum präsenten Weihnachten nicht entziehen kann und gleichzeitig nicht in die hohle Weihnachtsgeschäftigkeit flüchten will, welche Chancen habe ich dann überhaupt noch?
Wir sollten jetzt nicht zu sehr in einen negativ-pessimistischen Blick auf die Weihnachtszeit abdriften. Es stimmt: Weihnachten kann eine schwere Belastung sein. Die gute Nachricht ist aber: Vielen Menschen gelingt es ja, Weihnachten in einer Art zu leben, die es ihnen erlaubt, sich immer wieder auf das Fest zu freuen. Das heißt, es ist offenbar möglich, dass Weihnachten gelingt.
Aber Sie haben gefragt, was man tun kann. Ich könnte mich zum Beispiel trauen, die Frage zu stellen: Wo sind in mir Bedürftigkeiten, wonach sehne ich mich, worauf hoffe ich? Denn auch wenn diese Bedürftigkeiten das ganze Jahr über da sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu Weihnachten besonders stark auftauchen, groß.
Und dann?
Und dann bin ich unter Umständen in Gefahr, dass ich diesen Bedürfnissen in einer unreifen, nicht erwachsenen Form nachlaufe. Wie das Kind, das die Erfüllung seiner Wünsche, die schöne Puppe, das tolle Spielzeug vom Christkind erwartet. Oder etwas weiter gefasst und ein bisschen polemisch gesagt: Der glänzende Weihnachtsengel soll kommen und mein Leben auf einen Schlag gut werden. Das sind kindliche Bedürfnisse, die wir alle in der einen oder anderen Form haben. Die Frage ist, ob es uns gelingt, diese Bedürfnisse als eine Einladung zu sehen. Als eine Einladung, für mich selbst einzutreten, mich selbst ernst nehmen.
Die Frage ist auch, ob es mir gelingt, mich von einer falsch verstandenen Selbstlosigkeit zu verabschieden, die eigentlich eine Selbstleugnung ist. Denn erst wenn ich mich selbst liebe, kann ich meinem Nächsten aus dieser Liebe heraus achtsam begegnen. Sonst begegne ich ihm aus einer Bedürftigkeit heraus, die erwartet, dass er sich aufopfert, weil ich mich auch aufopfere. Das wäre aber Selbstleugnung, auf beiden Seiten.
Eigenartig, ich dachte immer, ein entscheidender Punkt am Christentum ist, dass sich Christus für uns alle aufgeopfert hat.Nein. Seine Tat besteht darin, dass er sich nicht verweigert hat, dass er sich eben nicht verleugnet hat, sondern unverbrüchlich zu sich gestanden ist. Dass er Ernst gemacht hat mit dem, was er als richtig empfunden hat. Im Grunde geht es hier um das Phänomen der absoluten Selbsttreue.
Dann ist Christus ja gar nicht für mich am Kreuz gestorben, sondern für sich selbst.
Jetzt sind Sie bei Ostern. Bleiben wir zuerst noch bei Weihnachten, bei Christi Geburt. Das ist für mich ein ganz starkes Bild. Da gehen Menschen in einer dunklen Wüste und es wird Licht und der Engel sagt: Fürchtet euch nicht! Das hat mich immer schon beschäftigt: Warum fürchten sich Menschen, wenn es Licht wird? Ich meine das natürlich nicht physikalisch, sondern im Sinne der Botschaft. Da kommt ein Kind, das die Erlösung bringt, und die Frohbotschaft beginnt mit den Worten: Fürchtet euch nicht!
Es geht offenbar darum, sich nicht vor der Frage zu fürchten: Bist du bereit für dieses Kind in dir, für dieses Kind, das du selber bist und worin du dir selbst anvertraut bist. Oder gibst du diesem Kind keinen Platz, weil das Haus schon besetzt ist von Anderen?
Das ist eigentlich eine sehr moderne Geschichte. Dieses Kind ist ein Symbol für die heile Welt, es ist, wie jedes Kind, ein vollkommenes Wesen. In diesem Kind gibt es alles: Schlichtheit, Offenheit. Interessanterweise sind wir aber so mit anderem beschäftigt, dass wir uns dieses Kindes nicht annehmen, sondern es zu den Tieren in den Stall legen. Wo es übrigens eh gut aufgehoben ist.
Das ist jetzt sehr auf der Metaebene. Was bedeutet dieses Wissen für meine alltägliche Lebensrealität. Bedeutet es überhaupt etwas?
Das bedeutet, dass ich mich in meiner Ursprünglichkeit ernst nehmen soll. Dass ich mich ernst nehmen soll darin, wonach ich strebe und mich in meinem Tun danach richte. Ich weiß, das ist jetzt ein idealistisches Bild. Aber bloß weil es ein Ideal ist, heißt es ja nicht, dass es nicht dennoch als ein Mittel zur inneren Orientierung taugt. Damit ich merke, wenn ich mich zu sehr von mir selbst entferne. Bedürftigkeiten entstehen ja daraus, wenn einer übersieht, dass es nichts gibt, das ihm die Liebe zu sich selbst ersetzen kann. Weihnachten ist eine große Verführung, weil wir es auch so verstehen können, dass wir uns nicht um uns kümmern müssen, weil die Erlösung ohnehin von außen kommt. Durch Geschenke, durch gutes Essen. Und wenn du dich dann auch noch genug aufgeopfert hast, dann wirst du belohnt werden. Das stimmt so nicht.
Wer sich nicht aufopfert und sich zum Beispiel erlaubt, den Weihnachtsabend ohne die betagten Eltern zu verbringen, kommt allerdings sehr leicht in den Ruf des Egoismus. Am Ende gibt’s oft nur die Entscheidung: den Vorwurf des Egoismus einstecken oder sich doch ein Stück untreu werden.
Ja, vor der Entscheidung stehe ich. Da kann ich aber nur sagen: Du wirst den Nächsten lieben wie dich selbst. Es geht darum, das Eigene in der Beziehung zum Anderen liebevoll durchzutragen. Auch darum, mich dem Anderen zuzumuten, den Eltern zuzumuten, dass ich heuer nicht zu Weihnachten komme, weil ich Weihnachten mit meinem Partner, mit meiner Partnerin erleben möchte. Es geht darum zu sagen: Gerade weil ich euch liebe, möchte ich euch offen begegnen und euch sagen: Ich möchte das so haben. Und ich möchte euch im Dialog, im Gespräch die Chance geben, das zu verstehen. Ob es gelingt, ist offen. Dialog ist immer offen.
Das ist ein ziemlich hoher Anspruch an alle Beteiligten, den Sie da stellen.
Es ist kein Anspruch, es ist eine Einladung. Eine solche Situation ist ja auch eine Chance für eine Beziehung. Wenn ich in der Beziehung zum Anderen für das Meine nicht eintrete, dann erspare ich mich ihm ja, ich bleibe ihm mich selbst schuldig. Ich verweigere ihm die Möglichkeit, dass unsere Beziehung um diese Facette, so unangenehm sie auch sein mag, bereichert wird. Sie haben vorher nach Egoismus gefragt. Das ist doch gerade das Gegenteil von Egoismus. Der Egoist handelt ja ganz anders. Der sagt: das wird jetzt so passieren, weil ich es so will. Aus. Punktum. Sonst zählt nichts. Der Egoist geht nicht in Beziehung. Wenn ich aber in den Dialog gehe, dann gebe ich dem Anderen die Möglichkeit, Stellung zu nehmen. Ich kann auch seine Traurigkeit spüren, wenn er sagt: Ich finde es schade, dass du heuer nicht kommst.
Und trotzdem führt der Wunsch, offen und wahrhaftig zu sein, irgendwann zur Frustration, weil kaum jemand immer und überall wahrhaftig sein kann.
Das ist nicht der Punkt. Wenn daraus der Anspruch auf allumfassende Wahrhaftigkeit wird, dann wird es tatsächlich schwierig. Denn das würde eine Größenidee in sich bergen, die nicht menschengerecht ist. Nein, es geht darum, immer wieder zu fragen, wie sehr ist das, was ich lebe, noch stimmig? Wie sehr ist es für mich stimmig, dass ich Weihnachten so lebe, wie ich es lebe? Jetzt können Sie natürlich sagen: Das ist Unsinn, weil Stimmigkeit eindeutig ist, denn ein Instrument ist entweder stimmig oder dissonant. Aber ehrlicherweise müssen wir uns eingestehen, dass vollkommene Stimmigkeit eher ein Geschenk für Augenblicke ist denn ein Dauerzustand. Zugleich ist es aber eine ganz große Bereicherung, weil es ein Kompass ist, der mir sagt, in welche Richtung ich mich ausrichten soll, wenn ich mich ernst nehmen will. Das hat jetzt nichts mit irgendwelchen programmatisch-zeitgeistigen Selbstverwirklichungs-Trips zu tun. Das sage ich dazu, weil der Versuch, sich treu zu bleiben, wie Sie schon erwähnten, sehr leicht den Verdacht des Egoismus auslöst.
Sie haben gesagt, das Gefühl der Stimmigkeit kann ein Kompass, eine Orientierung sein. Sagen Sie das auch vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Meinung, dass wir heute in einer Zeit der der fehlenden Werte leben?
Es ist sicher so, dass wir heute weniger Rituale, Traditionen, konfessionell gebundene Feiern haben, die Sicherheit bieten. Heute müssen wir viel stärker als früher unser Leben selbst strukturieren, selbst entscheiden. Dadurch werden die Anforderungen an den Einzelnen größer. Heute heiraten wir nicht, um uns abzusichern, sondern aus Liebe. Und deshalb geht es auch öfter schief. Beziehungsweise: Schief gegangen ist es früher auch, aber heute können wir uns scheiden lassen. Das heißt, wir sind ohne Zweifel freier geworden, wir erleben aber auch mehr Verantwortung, an der wir scheitern können.
Den Befund, dass wir heute freier sind, würden sicher nicht alle unterschreiben.
Weil es ja auch die Gegenbewegung dazu gibt. Wir sind zwar freier so mancher Tradition gegenüber geworden, gleichzeitig sind wir aber stärker denn je dem Zwang ausgeliefert, zu funktionieren. Auf den Universitäten geht es seit der Ära Schüssel nur noch darum, möglichst gut funktionierende Fachkräfte zu produzieren. Mit Bedrohungsszenarien wie Arbeitsplatzverlust oder Krise werden Menschen gefügig gemacht und dazu gebracht, sich völlig in das System einzupassen. Und dann kommt Weihnachten und sie sollen auf einmal gefühlvoll sein, wo sie das ganze Jahr über doch nur reibungslos funktionieren sollten. Kein Wunder, dass dann zu Weihnachten einiges wie ein Geschwür aufbricht. Und da frage ich mich schon: Was ist das für eine Zeit, in der wir so mit uns selbst umgehen müssen? Aber ich höre schon den Einwand, dass diese Kritik naiv, realitätsfremd ist.
Und warum ist sie nicht realitätsfremd?
Weil es sehr viel mit der Realität zu tun hat, wenn wir uns die Frage stellen: Will ich die Welt, so wie sie ist, meinen Kindern, weitergeben? Will ich so leben? Stimmt es für mich, immer nur zu funktionieren, die Anforderungen des Betriebs zu erfüllen, bis ich umfalle? Und wenn ich umfalle, dann bekomme ich hoffentlich als Belohnung die Berufsunfähigkeitspension. Ich weiß schon, als selbstständiger Arzt spreche ich aus einer luxuriösen Position. Aber ich sehe jeden Tag in meiner Ordination das Leid und den Schmerz, die entstehen, wenn Menschen nur noch funktionieren. Und zu Weihnachten verdichtet sich dieser Schmerz, weil der Anspruch der Familie, der Verwandtschaft auf Beziehung auch noch dazu kommt. Oder umgekehrt: weil einem zu Weihnachten die eigene Einsamkeit deutlich wird. Insofern ist Weihnachten schon der Moment, um zu fragen: Was brauche ich für ein gutes Leben? Will ich so leben, wie ich lebe?
Wenn alle Weihnachten als Anlass zu solchen Gedanken nehmen würden, hätten wir am Ende eine Revolution.
Ich würde sagen, es würde sich etwas bewegen. Vielleicht auch in der Form einer Revolution. Aber wie hat es doch vor 2000 Jahren geheißen? Fürchtet euch nicht! Abgesehen davon: das Ablösen von Altem und das Platzschaffen für Neues muss nicht immer mit Gewalt und Anarchie verbunden sein.
Piotr Dobrowolski, geboren 1965, war u.a. Außenpolitik-Chef bei "Format" und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Frontal" und lebt nun als freier Journalist in Graz.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> Christian Probst, geboren 1959, ist Gründer und Leiter des Instituts für Existenzanalyse und Logotherapie in Graz, einer Therapierichtung, die auf Ideen von Viktor Frankl basiert und von Frankls langjährigem Mitarbeiter Alfried Längle weiterentwickelt wurde. Im Zentrum der Existenzanalyse steht die Frage nach der inneren Zustimmung zum eigenen Leben.
Christian Probst ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut in freier Praxis. Er leitet auch die Fachabteilung Psychiatrie und Neurochirurgie an der Privatklinik Kastanienhof und ist Vorstandsmitglied im internationalen Vorstand der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Psychotherapie bei klinisch manifesten Störungsbildern, Suchterkrankungen, Essstörungen, Depressionen, Angst- und Zwangserkrankungen und Psychosen.
Über die Existenzanalyse und die Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse informiert die Website www.gle.at