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Chromosomen steuern Krebsgeschehen

Von Alexandra Grass

Wissen

Verlieren männliche Zellen das Y-Chromosom, können daraus aggressive, aber auch besser behandelbare Tumore wachsen.


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Wenn Männer altern, verlieren einige ihrer Zellen genau das, was sie zu biologischen Männern macht - nämlich das Y-Chromosom. Der Verlust dieses Erbgutträgers behindert die Fähigkeit des Körpers, Krebs zu bekämpfen, und hilft damit den Tumorzellen, sich dem körpereigenen Immunsystem zu entziehen, beschreiben Wissenschafter des Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles im Fachmagazin "Nature". Dieser biologische Prozess wurde bei verschiedenen Krebsarten beobachtet. Der Verlust dieses Chromosoms führt etwa zu aggressiverem Blasenkrebs - erfreulicherweise mit einer Achillesferse. Denn die erkrankten Zellen reagieren empfindlicher auf herkömmliche Therapien, so die Forscher.

Beim Menschen hat jede Zelle für gewöhnlich ein Paar Geschlechtschromosomen. Während Frauen zwei X-Chromosomen besitzen, haben Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Letzteres enthält die Baupläne für ganz bestimmte Gene. "Diese Studie stellt zum ersten Mal eine Verbindung zwischen dem Verlust des Y-Chromosoms und der Reaktion des Immunsystems auf Krebs her, wie sie noch nie hergestellt wurde", erklärt Dan Theodorescu, Direktor des Cedars-Sinai Cancer Centers in der neuen Studie. Dies wurde bei mehreren Tumorarten beobachtet.

Alterung erschöpft T-Zellen

Im Speziellen nahmen die Forscher Blasenkrebsfälle unter die Lupe. Auf der Grundlage der Art und Weise, wie bestimmte Gene in normalen Zellen der Blasenschleimhaut exprimieren, entwickelten die Wissenschafter ein eigenes Bewertungssystem, um den Verlust des Y-Chromosoms bei Krebserkrankungen messen zu können. In Folge untersuchten sie dann die Daten von zwei Gruppen von Männern. Eine Gruppe hatte muskelinvasiven Blasenkrebs und ließ sich die Blase entfernen, wurde aber nicht mit einem Immun-Checkpoint-Inhibitor behandelt. Die andere Gruppe nahm an einer klinischen Studie teil und wurde mit dem Immun-Checkpoint-Inhibitor therapiert. Dabei zeigte sich, dass die Patienten, die das Y-Chromosom verloren hatten, in der ersten Gruppe eine schlechtere Prognose hatten, während die Gesamtüberlebensrate in der zweiten Gruppe deutlich besser war.

Eine Schlüsselrolle dürfte das Zusammenspiel vom Verlust des Chromosoms mit den T-Zellen, den Killerzellen des Immunsystems einnehmen. Der Alterungsprozess dürfte die T-Zellen derart erschöpfen, dass sie den Krebs nicht bekämpfen können und dieser damit besonders aggressiv wächst.

Die Forscher um Theodorescu fanden allerdings auch heraus, dass Tumore, denen das Y-Chromosom fehlt, zwar aggressiver sind, aber auch anfälliger und besser auf die Therapie mit Immun-Checkpoint-Inhibitoren ansprechen. Sie ist eine der beiden wichtigsten Behandlungen bei Blasenkrebs, die Patienten heute zur Verfügung stehen. Sie hebt die Erschöpfung der T-Zellen auf und ermöglicht es dem körpereigenen Immunsystem, den Tumor zu bekämpfen.

Vorläufige, noch nicht veröffentlichte Daten zeigen, dass der Verlust des Y-Chromosoms auch Prostatakrebs aggressiver macht, erklärt der Wissenschafter in einer Aussendung. "Unsere Forscher vermuten, dass das eine adaptive Strategie ist, die Tumorzellen entwickelt haben, um dem Immunsystem zu entgehen und in mehreren Organen zu überleben", betont Shlomo Melmed von der Medizinischen Fakultät am Cedars-Sinai. "Dieser aufregende Fortschritt trägt zu unserem grundlegenden Verständnis der Krebsbiologie bei und könnte weitreichende Auswirkungen auf die künftige Krebsbehandlung haben."

Geschlecht als Variable

Frauen haben zwar kein Y-Chromosom, doch Theodorescu zufolge könnten diese Erkenntnisse ebenso für sie von Bedeutung sein. Das Y-Chromosom enthält eine Reihe verwandter Gene, die jenen auf dem X-Chromosom ähneln und sowohl bei Frauen als auch bei Männern eine Rolle spielen könnten.

"Das Bewusstsein für die Bedeutung des Verlusts des Y-Chromosoms wird die Diskussion darüber anregen, wie wichtig es ist, das Geschlecht als Variable in der gesamten wissenschaftlichen Forschung in der Humanbiologie zu berücksichtigen", betont Dan Theodorescu. "Die grundlegenden neuen Erkenntnisse, die wir hier liefern, könnten erklären, warum bestimmte Krebsarten bei Männern oder Frauen schlimmer verlaufen und wie sie am besten zu behandeln sind. Es zeigt auch, dass das Y-Chromosom mehr als nur das biologische Geschlecht des Menschen bestimmt", so der Forscher.