In ihrer langen Historie war die "Wiener Zeitung" immer wieder bedroht. Doch sie überlebte. | In den letzten Jahren war der Zuspruch groß, viele kämpften mit der Redaktion um den Erhalt. Ohne Erfolg.
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Die schlechte Kunde kommt plötzlich und überraschend. Am 24. Februar 2021 berichtet der "Standard", dass der "Wiener Zeitung" das Aus als gedruckte Tageszeitung drohe. Es ist die Ursache, die überrascht. Die EU soll schuld sein, genau genommen die EU-Richtlinie 2019/1151 zum Einsatz "digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht". Nie gehört, nie ein Thema gewesen. Doch wegen dieser Richtlinie, oder genauer, wegen ihrer konkreten Einarbeitung in nationales Recht soll ein Gutteil der Einnahmen aus den Veröffentlichungsgebühren entfallen. Und zwar binnen weniger Wochen. Das wäre das Aus.
Überraschend ist auch die Reaktion der Öffentlichkeit. Denn so gut wie alle Medien greifen die Meldung des "Standard" auf. Die Gewerkschaft und der Presseclub Concordia reagieren sofort, auf Twitter wird breites Unverständnis ventiliert, Briefe und Solidaritätsbekundungen erreichen die Redaktion.
Dass der "Wiener Zeitung" nur mehr "ein paar Jährchen" gegönnt sein werden, hatte der "Standard" schon am 18. Juli 2002 berichtet und sinngemäß alle paar Jahre danach immer wieder. Größere Aufmerksamkeit, geschweige denn Empörung, hatten all diese Nachrichten nicht hervorgerufen. Diesmal schon.
Das drohende Ende war für die Redaktion seit vielen Jahren allgegenwärtig, auch wenn es zumeist gelang, den Gedanken der Endlichkeit aus dem journalistischen Alltag zu verbannen. Darin liegt auch eine Tücke. Je öfter man über das eigene Ende liest, desto weniger glaubt man daran. Es ist denkbar, dass dieser intrinsische Irrglaube am Ende auch eine Rolle zu Ungunsten der "Wiener Zeitung" gespielt hat. Trügerische Sicherheit ist nie gut. Eine Hauptrolle spielte es aber nicht, die spielte die Bundesregierung.
Vorgenommen hatten sich schon frühere Regierungen, das gedruckte Amtsblatt abzuschaffen und damit der Zeitung die Finanzierungsgrundlage zu entziehen. Nur umgesetzt wurde es nie.
Keine Einbindung der Redaktion
Die EU-Richtlinie aber klingt unausweichlich. Und entsprechend fällt auch die Reaktion der politisch Zuständigen aus: Es ist Unionsrecht, da können wir nichts machen. Aber wir nutzen gleich die Gelegenheit, die "Wiener Zeitung" zu transformieren. Dies sind, zusammengefasst, die ersten Informationen über die Absichten der Bundesregierung, die in der Redaktion ankommen. Allerdings nicht direkt, denn die gewählte Vertretung, der Redaktionsbeirat, ist von Eigentümerseite nicht eingebunden, wie es das Redaktionsstatut vorsieht.
Dass auch diese Regierung das Amtsblatt abschaffen will, war bekannt, es stand im Regierungsprogramm. Wieder einmal. Aber diesmal mit dem Zusatz, die "Marke erhalten" zu wollen. Das klang besser als früher. Und Eva Blimlinger, grüne Mediensprecherin, hatte sehr bald nach Amtsantritt, ebenfalls im "Standard", erklärt: "Uns geht es schon massiv darum, die Wiener Zeitung auch auf Papier zu erhalten." Schnell sei man sich einig gewesen, dass "die Zeitung als Zeitung, in welcher Form auch immer" Bestand haben soll. Auch das klang gut. Für die klaren Worte der Unterstützung bedankte sich der Redaktionsbeirat im Jänner 2020 per E-Mail. Ein Jahr später klang Blimlinger dann ganz anders.
Es dauert zwei, drei Wochen, bis die Erkenntnis reift, auch innerhalb der Grünen, dass die EU-Richtlinie keineswegs zwingend in der geplanten Form in nationales Gesetz gegossen werden muss. Offenbar wollte man die Vorgaben aus Brüssel übererfüllen, wieder einmal, obwohl sich auch diese Bundesregierung vorgenommen hat, dieses "Gold-Plating" von EU-Richtlinien, also besonders strenge Umsetzungen, zu vermeiden.
Die Beamten im Justizministerium formulieren um. Die Passagen, die die "Wiener Zeitung" betreffen, werden entschärft. Am 22. März lässt Geschäftsführer Martin Fleischhacker per Aussendung wissen: "Nach einer ersten Überprüfung kann festgehalten werden, dass damit ein unmittelbarer finanzieller Verlust für das Unternehmen abgewendet ist." Doch damit ist nur das plötzliche Ende der Zeitung abgewendet, das eine sofortige Transformation nötig gemacht hätte. Am grundsätzlichen Vorhaben halten die beiden Regierungsparteien aber fest. In Koalitionen gilt dasselbe wie am Kartentisch: Was liegt, das pickt. Immerhin wird die "Pause"-Taste gedrückt. Es ist der Startschuss einer Rettungsaktion.
Rettung! Aber wie?
Das Ziel dieser Aktion ist klar. Doch über die Stoßrichtung wird in der Redaktion heftig debattiert. Die Meinungen über die Art und Weise des Überlebenskampfes sind geteilt. Doch wie sollte es auch anders sein? Die Qualitätssteigerung, die die "Wiener Zeitung" in den vergangenen Jahren erfahren hatte, war maßgeblich im Streit geboren. Gemeint ist die tägliche Debatte in der Redaktionskonferenz, in der Teeküche, zwischen Tür und Angel über aktuelle Ereignisse und deren Einordnung. Auch der Autor dieses Textes - dem kategorischen Nein auf chefredaktionelle Wünsche nicht abgeneigt - muss eingestehen: Die ständige Debatte mag im Alltag mühsam sein, aber sie ist gewinnbringend. Leider nicht immer.
Die Redaktion entscheidet, die "Wiener Zeitung" für "unverzichtbar" zu erklären. Seit 1703. Das wird auch zum Slogan der bewusst positiven Kampagne, um die gesellschaftliche Relevanz der ältesten Tageszeitung der Welt hervorzustreichen. Dutzende Prominente schließen sich der Rettungsaktion an, von der Redaktion angefragt, aber auch ungefragt, darunter Nobelpreisträgerinnen, Oscar-Preisträger, Unternehmer, Popstars, Wissenschafter, Sportler. Die Bandbreite reicht von Elfriede Jelinek bis Peter Schröcksnadel, von den Sozialpartnern über die großen Bühnen dieses Landes bis zu allen anerkannten Religionsgemeinschaften. Die Redaktion wird von einer Solidaritätswelle erfasst.
Der junge Journalist Raffael Reithofer initiiert in Eigeninitiative eine Online-Petition, die mehr als 17.000 Personen unterschrieben, "WZ"-Kolumnist Walter Gröbchen ruft eine Neigungsgruppe auf Facebook ins Leben, und der ehemalige Innenminister Karl Schlögl trommelt, ebenfalls eigeninitiativ, eine bunte politische Mischung zusammen. Seinen Aufruf unterschreiben ehemalige Kanzler, Vizekanzler, Minister, Landeshauptleute und ein früherer Bundespräsident. Auch hinter den Kulissen setzen sich namhafte Entscheidungsträger für den Erhalt der Zeitung ein.
Breite Empörung
Die Regierung hält argumentativ vor allem mit Zahlen dagegen, auch wenn sie dabei auffällig oft Leserschaft mit Abonnements verwechselt. Was als Legitimation für das eigene Handeln gedacht ist, trifft in der Redaktion auf Unverständnis. Denn deren Aufgabe ist qualitätsvoller, tagesaktueller Journalismus. Die breite Empörung und die stete öffentliche Thematisierung über das drohende Ende der Zeitung, die es früher, in ähnlichen Situationen, nie gegeben hat, versteht die Redaktion als Auszeichnung ihrer Arbeit.
Die "Wiener Zeitung" hat ohne jeden Zweifel an Relevanz gewonnen, das offenbart sich auch in der breiten Unterstützung. Aber, da haben die Regierungsvertreter schon recht, sie hat kaum an Größe im Sinn einer Auflagensteigerung zugelegt. Doch diesen Vorhalt hätte die Politik vielleicht besser an sich selbst gerichtet. Es ist der Eigentümer gewesen, der sich über Jahrzehnte in demonstrativer Zurückhaltung übte, der "Wiener Zeitung" zu größerer Verbreitung zu verhelfen.
Die Rettungsaktion der Redaktion beschränkt sich aber nicht nur darauf, Aufrufe zu organisieren. Im Juni 2021 präsentiert die Redaktion mit dem Forschungsverbund Cognion von Christian Helmenstein, dem Chefökonomen der Industriellenvereinigung, ihr Konzept zum Erhalt der Zeitung: tagesaktueller Qualitätsjournalismus verbunden mit einer gemeinnützigen Aufbereitung des Datenschatzes aus den Pflichtveröffentlichungen.
Chefredakteur Walter Hämmerle und Helmenstein touren zu den politischen Entscheidungsträgern und treffen dabei durchaus auf Interesse. "Ich hatte den Eindruck, das wird was", sagt Hämmerle heute. Es gibt auch Medienhäuser und Verleger, die sich melden, der Presseclub Concordia schlägt ein Treuhand-Modell für einige Jahre vor, der Medienwissenschaftler Fritz Hausjell eine Stiftungslösung. Auch die Idee einer Privatisierung wird aufgeworfen.
Die öffentliche Aufmerksamkeit scheint nun die politisch Zuständigen irgendwie zu überraschen. Dass Verleger und Forscher in der "Wiener Zeitung" und in den Daten des Amtsblattes ein Potenzial erkennen, scheint die Politik sogar etwas zu irritieren. Was sehen die, was wir nicht sehen? Immerhin hatte Kanzler Sebastian Kurz im April 2021 sein Desinteresse an der Zeitung in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung öffentlich gemacht. Der Betrieb einer Zeitung sei nicht Aufgabe der Republik. Punkt. Das war eine klare Ansage. Im Herbst trat er zurück.
Auf Seite der ÖVP wechseln die Entscheider und mit ihnen die Mitarbeiter gleich mehrfach. Das führt zu Verzögerungen und immer weiteren Treffen, bietet vielleicht aber auch neue Chancen. So hofft die Redaktion im ausklingenden Jahr 2021. Anders als der nach wie vor ignorierte Redaktionsbeirat erhält Hämmerle einige wenige Termine bei den maßgeblichen Entscheidern. Man habe zugehört, beschreibt er diese. Doch konkrete, inhaltliche Aussagen über die genauen Pläne zur "Transformation" seien ihm gegenüber nie getätigt worden, alles blieb stets vage. Über Intermediäre erfährt die Redaktion auch nicht viel mehr. Nur dies: Es sehe gut aus. Man solle sich keine Sorgen machen.
Ein Gerücht wird wahr
Dass nach zwei Jahren wieder Stellen in der Redaktion nachbesetzt werden, ist auch ein gutes Zeichen. Dass mit den Interessenten keine vertiefenden Gespräche geführt werden und die anfängliche (dargestellte?) Offenheit auf politischer Seite gegenüber den Interessenten einer gläsernen Wand weicht, verunsichert. Über Monate passiert: nichts. Gut? Schlecht? Wer entscheidet überhaupt? Auch das ist lange unklar.
Im Juli 2022 wechselt die für Medien zuständige Abgeordnete der ÖVP, Gabriela Schwarz, vom Hohen Haus in die Volksanwaltschaft. Die Medienagenden im Klub der Volkspartei übernimmt Kurt Egger, Generalsekretär des Wirtschaftsbundes.
Am 23. September 2022 berichtet der "Standard" abermals über die "Wiener Zeitung". Sie soll nur mehr monatlich erscheinen. Es sind vorerst Gerüchte, die eine intensive Phase mit spätabendlichen Krisensitzungen in der Redaktion auslösen. Briefe an Entscheider, tatsächliche und vermeintliche, werden aufgesetzt und wieder verworfen, neu formuliert. Die Redaktion beschließt eine Resolution. Dazwischen hektische Nachfragen bei Regierungsmitgliedern und Mitarbeitern. Kann das sein? Es dauert einige Tage, bis Gewissheit herrscht: Die Gerüchte sind wahr.
Am 5. Oktober präsentiert Ministerin Susanne Raab die Pläne der Bundesregierung. An ihrer Seite: die grüne Klubchefin Sigrid Maurer. Die Zeitung wird eingestellt und die "Wiener Zeitung" wird nur mehr online erscheinen. Zehn Mal im Jahr soll es eine gedruckte Ausgabe geben. "Jeder Mitarbeiter bekommt die Möglichkeit, sich im neuen Geschäftsmodell zu beteiligen", sagt Ministerin Raab. Zwei Wochen später schickt sie den ausgearbeiteten Ministerialentwurf zur Begutachtung ins Parlament.
Erneut wird die Redaktion überrascht. Statt einer sehr schlanken gesetzlichen Hülle wie beim Staatsdruckereigesetz wird das Wesen und Wirken der "Wiener Zeitung" auf nun fünf Seiten sehr genau definiert. Einige ab 2018 außerhalb der Redaktion im Unternehmen installierte Abteilungen wie die Content-Agentur und der Media Hub sollen gesetzlich verankert werden.
Der Entwurf stößt in der Begutachtung auf sehr umfassende Kritik, die sich nicht nur auf das Ende der Tageszeitung bezieht. Sogar das neue digitale Amtsblatt, das im Prinzip großflächig begrüßt wird, zieht etwa den Ärger der Bundesländer nach sich, da diese seit mehr als einem Jahr an einer ähnlichen Plattform arbeiten. Der Gemeindebund lehnt den Entwurf deshalb sogar "entschieden ab" und sieht "keinesfalls eine Entbürokratisierung oder gar eine Modernisierung". Der Rechnungshof wundert sich über die Finanzierung, die Medienbranche über den Media Hub und die Konstruktion der Journalistenausbildung. Das Ministerium von Vizekanzler Werner Kogler will die Content-Agentur streichen, die Opposition wittert die Schaffung einer Blackbox für ausgelagerte Kommunikationsleistungen der Bundesregierung.
Aus Gesprächen mit Abgeordneten und Regierungsmitgliedern wird zweierlei bald klar: Erstens, der Beschluss zur kompletten Neuaufstellung des gesetzlichen Auftrags ist im kleinsten Kreis gefallen. Sogar nach Präsentation des Entwurfes gehen einige Abgeordnete der Regierungsparteien davon aus, dass zwar die gedruckte Ausgabe der Tageszeitung eingestellt werden muss, leider, aber die "Wiener Zeitung" online im Wesentlichen wie bisher erscheinen wird. Ein Abgeordneter wundert sich über die Bewertung der Pläne durch die Redaktion, wonach es keine tagesaktuelle Berichterstattung mehr geben werde: "Das hat man uns anders gesagt." Zweitens, es ist kaum noch ein Spielraum für Anpassungen vorhanden. Es gilt auch hier der Spruch vom Kartenspielen: Was liegt, das pickt.
Jetzt erst recht!
Dennoch intensivieren sich in dieser Phase die Versuche der Rettung. Die Redaktion fordert ein Moratorium von 18 Monaten, um das Kulturgut der weltweit ältesten Tageszeitung zu retten. Die Opposition tritt geschlossen gegen die Pläne der Regierung auf, wenn auch mit unterschiedlichen Gegenvorschlägen. In der Wiener "Kulisse" laden der Kabarettist Josef Hader und Freunde zu einem Solidaritätsabend, eine Demonstration durch Wien mit mehr als 500 Teilnehmern zieht vor das Bundeskanzleramt, wo der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler indirekt zur Protestwahl aufruft. In der Medienbranche sorgt das nahe Ende der "Wiener Zeitung" für eine bemerkenswerte Parallelität. Sowohl "Falter"-Herausgeber Armin Thurnher als auch "Krone"-Eigentümer Christoph Dichand ziehen gegen das Vorhaben publizistisch zu Felde. Die Redaktion erhält den renommierten Kurt-Vorhofer-Preis.
Es zeigt sich allerdings auch im Fall der "Wiener Zeitung" ein nur schwer lösbares, sehr grundsätzliches Problem des Gesetzgebungsprozesses. Je näher ein Vorhaben dem parlamentarischen Beschluss kommt, desto konkreter entfaltet sich einerseits vor den Augen der Öffentlichkeit dessen Auswirkung, desto kleiner wird andererseits aber auch das Fenster der Möglichkeit für Änderungen. So auch in diesem Fall. Die Regierung entscheidet, das Parlament nickt ab.
Am 27. April 2023 beschließt der Nationalrat mit nur geringfügigen Anpassungen das Gesetz, das zur Konsequenz das Ende der Tageszeitung hat. Am 1. Juli wird die "Wiener Zeitung" in neuem Gewand erscheinen. Dass jeder Mitarbeiter ein Angebot erhalten wird, wie es Raab bei der Präsentation im Oktober sagte, war unrichtig.
Diesen Artikel finden Sie in Printform - ein letztes Mal - am 30.6. in Ihrer "Wiener Zeitung".