In der mexikanischen Grenzregion zu den USA, in der Millionenstadt Ciudad Juárez, werden seit zehn Jahren massenweise junge Mädchen entführt, vergewaltigt, ermordet. Die Behörden ermitteln schleppend und erfolglos. Erst seit kürzlich amnesty international vor Ort recherchierte und eine Kampagne startete, kommt Bewegung in die Untersuchungen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
In Ciudad Juárez, im Norden Mexikos an der Grenze zu den USA gelegen, ist die Globalisierung zu einer apokalyptischen Vision geworden. In den Weltmarktfabriken von Nike, Sony, Mitsubishi, Hewlett Packard & Co. schuften über 200.000 Menschen Tag für Tag - und bei guter Auftragslage auch nachts - in hermetisch abgeriegelten Gebäuden, bei stickiger Luft im Licht von Neonlampen, zu ärmlichen Löhnen und unter prekärsten Arbeitsbedingungen. Der hier geschaffene Reichtum geht in die Herkunftsländer der Konzerne - vor allem USA, Japan, Taiwan und Südkorea. Der mexikanische Staat hebt nur minimale Steuern auf die Ausfuhren ein.
Mehr als die Hälfte der jungen Frauen, die etwa 65 Prozent der Arbeitskräfte in Ciudad Juárez stellen, sind ledige Mütter. Viele gingen alleine von Zuhause weg, um dann einen Teil ihres Einkommens an ihre Familien zu überweisen. Sie arbeiten in den Billiglohnfabriken, in Bars und Restaurants, als Prostituierte. Und viele, die auf der Suche nach Arbeit hierherkamen, kehren nicht mehr zurück. Seit 1993 sind zwischen 320 und 370 Frauen in Ciudad Juárez ermordet worden, zwischen 400 und 500 verschwanden spurlos. Amnesty International spricht von der Maquila-Boomtown als der "Stadt der toten Mädchen".
Die grauenhaften Umstände, unter denen die Serienmorde begangen werden, bieten den Nährstoff für die verschiedensten Spekulationen. Die Opfer werden häufig vergewaltigt, misshandelt, erhängt oder zu Tode geprügelt. Und es sind in der Regel junge, attraktive Frauen, die von den Mördern ausgesucht werden, manchmal sogar noch Kinder.
Die Tatsache, dass die jahrelangen Ermittlungen bisher noch kein Licht in das Dunkel dieser bestialischen Mordserie gebracht haben, haben die Vorstellung von tödlichen Sex-Orgien entstehen lassen, an denen höchste Vertreter aus Gesellschaft und Politik teilnehmen. Andere sprechen davon, dass die Frauen zur Herstellung von Snuff-Videos entführt werden und ihr Leidensweg auf diesen gewaltverherrlichenden Pornos aufgenommen wird.
Ein psychoanalytischer Ansatz verweist auf den verletzten Männerstolz als Triebfeder für die Mordserie. In einer Macho-Gesellschaft bedeute es eine Erniedrigung für die Männer, wenn die Frauen leichter und häufiger Arbeit bekommen als die Herren der Schöpfung, und wenn sie selbständig leben.
Die mexikanische Justiz hat es bis jetzt verabsäumt, die mysteriöse Todesserie aufzuklären, und die Politik hat die Problematik lange Zeit ignoriert. Im vergangenen September erst setzte Präsident Vicente Fox einen Sonderstaatsanwalt für die Mordserie von Chihuahua ein. Nun scheinen endlich seriöse Ermittlungen anzulaufen.
Den Stein ins Rollen brachte eine Untersuchungskommission von Amnesty International (ai) Anfang August in Ciudad Juárez. Die Gefangenen-Hilfsorganisation kommt zwar zu keinen konkreten Ergebnissen hinsichtlich der Täter, doch hat ihr Bericht, der die sträflichen juridischen und politischen Versäumnisse vieler Jahre aufzeigt, in Mexiko viel Staub aufgewirbelt. Mit dem ai-Besuch und der anschließenden internationalen Kampagne hat sich offenbar das Blatt gewendet. Vor zwei Monaten erklärte Sonderstaatsanwalt José Luis Santiago Vasconcelos, dass gegenwärtig in 228 Fällen ermittelt werde. Mit Schuldzuweisungen oder Hinweisen auf die Motivation der Täter ist er noch vorsichtig. "Hinter den Morden stehen womöglich gewalttätige Kulte, Videoproduktionen oder auch Nachahmungstäter", so der Staatsanwalt.
Neben dem Image-Verlust, den Mexiko durch die internationale Kampagne von Amnesty befürchtet, dürfte auch eine andere Tatsache dazu geführt haben, dass nun höchste Stellen in Politik und Justiz die Aufklärung der Frauenmorde vorantreiben wollen. In den letzten Monaten haben sich die unheimlichen Verbrechen auch auf andere Städte der Grenzregion ausgeweitet, und selbst in der weit entfernten Hauptstadt Chihuahua hat die Zahl der ungeklärten Frauenmorde zugenommen.
Informationen über die ai-Kampagne: http://www.amnesty.at//cgi-bin/navi.pl?aktion=link&filename=uebersicht