Der französische Filmemacher und Journalist Claude Lanzmann über die Entstehung seines Films "Shoah" und seine soeben auf Deutsch erschienene Autobiographie.
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Wiener Zeitung: Herr Lanzmann, Ihre soeben auf Deutsch erschienene Autobiographie liest sich streckenweise wie ein Abenteuerroman. Claude Lanzmann: Es geht aber in diesem Buch nicht nur um Abenteuer.
Nein, sicher nicht. Aber Sie schildern ungewöhnlich viele spektakuläre Erlebnisse.
Ich habe nicht versucht, besonders aufregende oder ungewöhnliche Dinge zu erzählen. Für mich ist mein Leben nichts Besonderes, ich bin auch nicht besonders stolz darauf.
Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?
Ich habe einfach begonnen, und die Dinge sind dann wie von selbst gekommen. Es gab Themen, von denen ich nicht gedacht hatte, dass ich darüber sprechen würde. Über das Leben und Sterben meiner Schwester zum Beispiel ( die Schauspielerin Evelyne Rey starb 1966 durch Suizid, Anm. ). Doch jetzt ist es ein wichtiger Teil des Buches geworden. Das Thema hat sich mir aufgedrängt. Das Leben und Sterben meiner Schwester ist kein Abenteuer.
Es gibt im Buch auch Geschichten vom Unbewussten, von Mut, von Angst, von Feigheit. Vielleicht hatte ich kein Leben wie jeder andere, aber es war nicht das Leben eines Abenteurers. Ich habe ein ernsthaftes Leben geführt. Einen Film wie "Shoah" zu machen war, wenn Sie wollen, ein großes, gefährliches Abenteuer, von dem ich nicht wusste, wo es mich hinführen würde.
In dem Kapitel über die Entstehungsgeschichte von "Shoah" beschreiben Sie packend, welche Widerstände und Hindernisse Sie überwinden mussten, damit Sie sowohl ehemalige Mitglieder von jüdischen Sonderkommandos in den Lagern als auch Bewohner von Treblinka und diverse Deutsche, die an der Judenvernichtung beteiligt waren, vor die Kamera bekamen. Nach zwölf Jahren wurde der Film 1985 endlich fertig. Wie war das damals für Sie?
Der Tag, an dem der Film fertig wurde, war ein normaler Arbeitstag. Ich bin nicht vor Freude gesprungen oder habe Champagner getrunken. Ich hatte nicht alles gesagt, was ich hätte sagen können, aber das Wesentliche immerhin. Ich wollte die jüdische Sicht des Holocaust zeigen und einen Film machen, der das letztgültig darstellt - und das ist gelungen. Im Übrigen denke ich, "Shoah" hat den Deutschen sehr bei der Vergangenheitsbewältigung geholfen. Er hat bei seinem Erscheinen großartige Diskussionen ausgelöst.
1947 kamen Sie als Philosophie-Student ins süddeutsche Tübingen, danach als Lektor an die neu gegründete Freie Universität Berlin, später waren Sie mit der deutschen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff verheiratet. Sprechen Sie Deutsch?
Sehr schlecht. Ich habe nie Sprachkurse besucht. Bei der Arbeit an "Shoah" war es jedoch eher von Vorteil, dass ich nur schlecht Deutsch spreche. Das hat die Nazis zum Reden gebracht.
Sie schreiben, dass Sie sich in Tübingen mit Wendi von Neurath angefreundet hatten, einer Nichte von Hitlers erstem Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath, der beim Nürnberger Prozess zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Sie sind auf dem Gut der von Neuraths ausgeritten, haben bei einem Essen, das Ihnen zu Ehren gegeben wurde, neben Generälen und Offizieren gesessen, die teilweise noch ihre Wehrmachtsuniform trugen. Wie kann jemand, der in der Résistance war, nur wenige Jahre später mit solchen Nazis verkehren?
Wendi war kein Nazi. Später ist sie nach Israel gegangen, um für ihre Familie zu büßen.
Sicher, aber was war mit dem Rest der Familie?
Ich studierte Philosophie, und Deutschland war für mich das Land der Philosophie. Ich hatte Lust, Deutsche im Frieden zu erleben, ohne Waffen. Das interessierte mich. Ich habe übrigens auch mit den Nazis gegessen, die ich für "Shoah" befragt habe.
Weil Sie wollten, dass sie bei Ihrem Film mitmachen. Was wollten Sie von der Familie Neurath?
Wie gesagt, sie hat mich interessiert. Ich habe sie studiert, wenn Sie so wollen. Ich habe bei ihnen sogar mein erstes KZ gesehen. Es lag auf ihrem Grund.
Während Ihrer Israel-Reise 1952 hatten Sie erstmals Kontakt mit gläubigen Juden. Sie schreiben, wie beeindruckt sie von ihnen waren, wie klar Ihnen die Macht der Religion plötzlich vor Augen stand.
Ja, es war ein Schock, eine große Entdeckung, eine Offenbarung. Ich bin ohne Religion und praktisch ohne jüdische Kultur aufgewachsen. Ich wusste nichts davon. Diese Welt war mir vollkommen fremd, auch weil ich nicht Hebräisch spreche. Gleichzeitig fühlte ich mich den gläubigen Juden dort brüderlich verbunden. Ich wurde in Paris geboren, meine Familie lebt seit langem in Frankreich, aber ich hätte genauso gut in Osteuropa oder sonst irgendwo in eine religiöse Familie hineingeboren werden können. Das wurde mir erst damals richtig klar. Israel war jedenfalls immer sehr wichtig in meinem Leben. Ich habe zwanzig Jahre später einen Film über Israel gemacht. Er ist aus Material entstanden, das ich bei meiner ersten Israel-Reise für eine Reportage gesammelt hatte, die ich nie geschrieben habe. "Warum Israel" ist ein Film, den ich sehr mag, der auch nicht gealtert ist. Ein Film von über drei Stunden. Er sagt alles über meine Nähe und Distanz zu Israel. Die Distanz war wichtig, um den Film zu machen. Ebenso gilt: Wenn ich deportiert worden wäre, hätte ich "Shoah" nicht gemacht. Man muss zugleich in der Materie drin sein und doch draußen stehen. Das nenne ich die Haltung des Zeugen.
Sie arbeiten seit den 1950er Jahren für "Les Temps modernes", die Zeitschrift, die von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gegründet wurde. Und seit de Beauvoirs Tod leiten Sie sie. Wie empfinden Sie die Arbeit daran heute im Vergleich zu früher?
Die Arbeit hat sich verändert, weil die Welt sich verändert hat. Die Frage nach der Treue zu Sartre. . . Tja, was bedeutet es, untreu zu sein? Ich halte mich an etwas, das ich den Kurs auf die Nicht-Untreue nenne.
Das bedeutet . . .
. . . das ist die einzige Treue, die möglich ist. Ich denke, Sartre hätte nicht alles für gut befunden, was ich mit "Les Temps modernes" gemacht habe. Aber ich bin nicht er.
Wissen Sie schon, wer nach Ihnen die Redaktion von "Les Temps Modernes" leiten wird?
Nein, ich weiß nicht einmal, ob es die Zeitschrift dann überhaupt noch geben wird. Die Philosophin Juliette Simont, meine Mitherausgeberin, der ich mein Buch diktiert habe, könnte es machen. Aber ich habe weder mir noch ihr je diese Frage gestellt. Man kann nicht alles regeln für die Zeit nach seinem eigenen Tod.
Macht es Ihnen Angst, wenn Sie an Ihren Tod denken?
Der Gedanke daran, zu sterben, bereitet mir überhaupt kein Vergnügen. Ich denke die ganze Zeit an den Tod. Er ist da. Er klebt an meinem Leben, wenn Sie so wollen.
War das auch schon so, als Sie jünger waren?
Weniger. Wenn man jung ist, verdrängt man das. Was für eine Schande!
Sie haben Ihr Buch mit einem Kapitel über Hinrichtungsarten begonnen. Das wirkt beim Lesen wie ein Schock.
Ja, aber das war nicht meine Absicht. Ich wollte klarmachen, was mir im Leben wichtig war, was die Basis für alles Spätere war. Eine philosophische Frage: Wie kann man jemanden zur Strafe in den Tod schicken? Der letzte Blick eines Mannes vor dem Tod, das ist für mich immer noch etwas Erschreckendes und Faszinierendes zugleich. Ich glaube nicht an Gott, ich glaube nur an das Leben. Jeder hat nur ein Leben. Danach kommt das Nichts. Das Nichts ist etwas Unerträgliches und Skandalöses. Der Tod ist ein Skandal, finde ich. Und jeder sogenannte natürliche Tod ist für mich etwas Gewaltsames.
Der Tod gehört für Sie nicht zum Leben wie die Geburt?
Doch, aber ich denke, es wäre besser, keine Kinder in die Welt zu setzen. Jedes Mal, wenn ich Menschen sehe, die voller Freude die Geburt ihres Kindes verkünden, denke ich mir: Das arme Kind, es ist zum Tod verurteilt!
Das ist eine sehr düstere Sicht aufs Leben.
Eine ziemlich düstere. Das hindert mich aber nicht daran, ein sehr lebenslustiger, fröhlicher und witziger Mensch zu sein.
Glauben Sie etwa an die Wiedergeburt?
Ich glaube an die Reinkarnation. Ich hoffe, dass meine Seele in einem Hasen weiterlebt.
Das habe ich in Ihrer Autobiographie gelesen. Glauben Sie, die Chancen stehen dafür gut?
(Zuckt mit den Schultern und deutet ein Lächeln an.) Das würde mir gefallen.
Hasen befinden sich aber ständig in großer Lebensgefahr, mehr als Menschen.
Ja, aber ich finde sie sehr schön. Und sie sind sehr schnell.
Haben Sie nach Ihrer Autobiographie ein neues Projekt?
Ja, ich habe mehrere Projekte. Ich mache ein weiteres Buch. Eine Sammlung von Texten, die ich in meinem Leben veröffentlicht habe, mit einem langen Vorwort. Und ich werde wenigstens noch zwei Filme machen.
Über welche Themen?
Themen, die an die Shoah geknüpft sind. Der eine ist ein Film über Theresienstadt, der andere wird eher ein Porträt werden.
Zur Person
Claude Lanzmann wurde 1925 in Bois-Colombe geboren. Er wuchs in Paris und in der Auvergne auf, als Jugendlicher kämpfte er in der Résistance auf Seiten der Kommunisten. Durch seinen Stiefvater kam er früh mit der Pariser Intellektuellenszene in Kontakt, studierte nach dem Krieg Philosophie in Paris und Tübingen, lehrte Philosophie in Berlin und arbeitete nach seiner Rückkehr nach Paris überwiegend als Journalist. Für Auftraggeber wie "Elle" und "Les Temps modernes" reiste er durch die halbe Welt.
Sein erster Film, "Warum Israel" (1972), sollte die Notwendigkeit eines jüdischen Staates aufzeigen. Sein zweiter Film machte Lanzmann weltberühmt: "Shoah" (1985), eine neunstündige Dokumentation über den Holocaust. Lanzmann hatte zwölf Jahre daran gearbeitet, Zeitzeugen auf der ganzen Welt befragt: Täter, Widerstandskämpfer und Opfer. Eine Gesamtausgabe von Lanzmanns Filmen auf DVDs ist bei Absolut Medien erschienen.
Lanzmanns soeben auf Deutsch erschienene Autobiographie "Der patagonische Hase" (Rowohlt Verlag, 666 Seiten, 25,70 Euro) ist eine persönliche und zugleich weit ausholende Geschichte des 20. Jahrhunderts. Auf fast 700 Seiten mischt der Autor ungeheuerliche Erlebnisse und Begegnungen mit philosophischen Passagen und amüsanten bis erschütternden Anekdoten.
Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur-, Literatur- und Reisejournalistin in Hamburg.