Wildrinder sind Pflanzenfresser und verursachen meist nur geringe Probleme.
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Berlin. Falls demnächst jemand ein paar mächtige Zottelgestalten mit gebogenen Hörnern durch einen nordrhein-westfälischen Wald trotten sieht, leidet er nicht unter Halluzinationen. Er ist nur der ersten freilebenden Wisent-Herde begegnet, die Deutschland seit dem 16. Jahrhundert zu bieten hat. Am 11. April will der Trägerverein "Wisent-Welt-Wittgenstein" eine Gruppe von acht Tieren im Rothaargebirge freilassen. Gespannt warten Forscher und Naturschützer auf die Erfahrungen, die das Team dabei machen wird. Denn die könnten den größten Säugetieren Europas auch die Rückkehr in andere Regionen erleichtern. Ähnliche Projekte sind zum Beispiel in Nordspanien und auf der dänischen Insel Bornholm geplant.
In Westeuropa einmalig
Bisher konnten die bärtigen Wildrinder nur in Osteuropa ein wirkliches Comeback feiern. Nachdem die Art in den 1920er Jahren in freier Wildbahn ausgestorben war, hatten Naturschützer Anfang der 1950er Jahre die ersten in Gefangenschaft gezüchteten Tiere im Bialowieza-Urwald an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland angesiedelt. Und auch in einigen anderen Ländern wie Russland oder der Ukraine gibt es wieder freilebende Herden. "Für Westeuropa dagegen ist unser Vorhaben bisher einmalig", sagt Michael Emmrich, der Pressesprecher des Projektes im Rothaargebirge.
So leben Deutschlands Wisente derzeit nur hinter den Zäunen von Zoos, Gehegen und speziellen Reservaten. Im Rothaargebirge dagegen werden sie künftig ohne Zaun frei durch den forstwirtschaftlich genutzten Wittgensteiner Wald nördlich von Bad Berleburg streifen. Mehr als 4000 Hektar möglicher Lebensraum wird sich am Tag der Freilassung vor ihren Hufen erstrecken. Der größte Teil davon gehört Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein, der das vom Bundesamt für Naturschutz und vom nordrhein-westfälischen Umweltministerium geförderte Projekt angestoßen hat.
Was aber ist von den künftigen Nachbarn auf vier Hufen zu erwarten? Mit dieser Frage haben sich im Vorfeld Wissenschafter von vier Universitäten und etliche freie Kollegen beschäftigt. "Bevor das nordrhein-westfälische Umweltministerium im Dezember die Freilassung genehmigt hat, mussten wir etwa 70 Seiten Fragen nach möglichen Folgen beantworten", erinnert sich Emmrich. So ist zum Beispiel bekannt, dass ein Wisent nicht nur bescheiden an ein paar Halmen knabbert, sondern bis zu 60 Kilogramm Pflanzenmaterial am Tag verdrückt. Von Rinde über Gras und Laub bis hin zu jungen Bäumen verschwindet alles Erreichbare in seinem Maul. Werden sie in ihrer neuen Heimat also größere Schäden anrichten?
In dem knapp 90 Hektar großen Eingewöhnungsgehege, in dem sie bis zu ihrer Freilassung leben und das auch Teil ihres künftigen Reiches sein wird, haben sie sich jedenfalls nicht zurückgehalten. Es gibt dort ein kleines Tal, in dem die landwirtschaftliche Nutzung vor Jahren aufgegeben wurde. Die offenen Flächen verschwanden daraufhin mehr und mehr unter Gestrüpp. "Die wuchernden Brennnesseln und Himbeeren haben sie weitgehend niedergefressen, einzelne Fichten mit den Hörnern traktiert", berichtet Jörg Tillmann von der Tierärztlichen Hochschule Hannover, der alle Forschungen rund um das Projekt koordiniert.
Gegen die aufkeimenden Buchen sind die acht Tiere allerdings nicht angekommen. Und wenn sie das Eingewöhnungsgehege verlassen haben, dürfte ihr Einfluss nach Einschätzung der Wissenschafter weiter schwinden. Schließlich soll sich die Herde in den nächsten Jahren auf maximal 20 bis 25 Mitglieder vermehren. Die aber werden auf einer Fläche von mehr als 4000 Hektar wohl keine größeren Spuren hinterlassen, meint Tillmann: "Die vielen Hirsche, Rehe und Mufflons im Gebiet dürften viel mehr Einfluss auf die Vegetation haben."
Für den Forstbetrieb im Wittgensteiner Wald ist das eine gute Nachricht. Schließlich soll das Projekt beweisen, dass sich Artenschutz und Forstwirtschaft verbinden lassen. Was aber, wenn Tiere den Wald verlassen und ihren Hunger auf Äckern und Wiesen stillen? Ihre Kollegen im Nordosten Polens machen das schließlich auch. Im Fachjournal "Environmental Management" berichteten Emilia Hofman-Kaminska und Rafal Kowalczyk von der Polnischen Akademie der Wissenschaften kürzlich über daraus resultierende Konflikte. Vor allem zwischen Dezember und März vergreifen sich Wisente demnach zunehmend an Wintergetreide, Raps und Heumieten in der Nähe des Bialowieza-Urwaldes und des Knyszyn Waldes. In den Jahren 2000 bis 2010 hat der polnische Staat insgesamt 196.200 Euro ausgegeben, um betroffene Bauern zu entschädigen.
"Solche Probleme sind im Rothaargebirge aber nicht zu befürchten", ist Tillmann sicher. Erstens betreibt dort heute kaum noch jemand Ackerbau, die Tiere könnten also allenfalls unerlaubt auf einer Wiese grasen. Zweitens werden die Projektmitarbeiter die Wisente in der kalten Jahreszeit füttern.
Die zotteligen Rückkehrer werden nicht unbeobachtet in ihrer neuen Heimat unterwegs sein. Die Leitkuh wird einen Sender um den Hals tragen. Die Forscher interessieren sich zum Beispiel dafür, wo die Tiere fressen und wo sie schlafen. Vielleicht kreuzen sie auf ihren Streifzügen ja auch regelmäßig eine Straße? Angesichts der wenigen Straßen, die den dortigen Wald durchziehen, ist die Gefahr von Verkehrsunfällen allerdings ziemlich gering.
Fluchtdistanz zu Menschen
Auch Spaziergänger werden den Wisenten wohl eher selten begegnen. Und wenn doch, haben sie nichts zu befürchten. Das zeigen zum einen die Erfahrungen im polnischen Bialowieza-Urwald, wo zahllose Touristen unterwegs sind, ohne mit den zottigen Waldbewohnern aneinanderzugeraten. Zum anderen haben Biologen der Universität Siegen ausführlich getestet, wie die künftigen Bewohner des Rothaargebirges auf Menschen reagieren. "Alle Tiere stammen ja aus Gehegen und sind deshalb an Menschen gewöhnt", erklärt Jörg Tillmann. "Trotzdem sollten sie die Flucht ergreifen, wenn ihnen Menschen oder Hunde zu nahe kommen." Ihre Fluchtdistanz beträgt derzeit etwa 40 Meter und die Forscher gehen davon aus, dass sie sich nach der Freilassung weiter vergrößern wird. "Man kennt das von ausgebrochenen Kühen", sagt Tillmann. "Schon nach relativ kurzer Zeit in Freiheit zeigen die ein Fluchtverhalten wie ein Wildrind."
Bis auf eine Kuh haben alle Wisente diesen Test bestanden. Das allzu zutrauliche Wisent-Weibchen wird nicht in den Wald entlassen. Es lebt stattdessen mit fünf Artgenossen in einem etwa 20 Hektar großen, separaten Areal des Projekts. Ein Wanderweg durch diese "Wisent-Wildnis am Rothaarsteig" bietet gute Chancen, die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Seit der Eröffnung im September 2012 haben schon mehr als 13.000 Besucher diese Gelegenheit genutzt. "Das ist für unser Projekt ein sehr wichtiger Erfolg", freut sich Michael Emmrich. Zu Beginn des Projektes habe es in der Bevölkerung durchaus Vorbehalte gegen die Freilassung gegeben: "Manche Skeptiker wussten allerdings nicht einmal, dass es sich um Pflanzenfresser handelt." Inzwischen aber haben die vielen Begegnungen in der Wisent-Wildnis den Tieren ein viel besseres Image beschert. Die neuen Nachbarn können kommen.