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Comeback aus dem Schattendasein

Von Daniel Bischof

Politik

Durch den Ukraine-Krieg erlebt das Konzept der umfassenden Landesverteidigung eine Renaissance. Ist es noch zeitgemäß?


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Ein Schattendasein fristete die umfassende Landesverteidigung in den vergangenen Jahrzehnten. Dazu zählen neben der militärischen auch die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung. Infolge des Kriegs in der Ukraine wird sie wieder ans Licht gezerrt.

Die umfassende Landesverteidigung solle mehr ins Zentrum gerückt und "als staatliche Kernaufgabe gesehen werden", meinte Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) Anfang August. Ihr Ressort hat dazu eine Informationskampagne gestartet. Derzeit läuft sie heeresintern, eine bundesweite Kampagne wird vorbereitet. Tanner folgt dem Aufruf des Nationalen Sicherheitsrates, in dem alle Parlamentsparteien vertreten sind. Das Gremium hatte am 25. Februar, einen Tag nach Russlands Angriff auf die Ukraine, der Bundesregierung empfohlen, die umfassende Landesverteidigung aufrechtzuerhalten und dem Nationalrat über "Wiederbelebungsmaßnahmen" zu berichten.

Doch ist eine solche Wiederbelebung sinnvoll? Er begrüße diesen Ansatz, sagt Walter Feichtinger, ehemaliger Bundesheer-Brigadier und Leiter des "Center für Strategische Analysen". Notwendig seien aber auch weitere Maßnahmen: "Ein bisschen da und dort reicht alleine nicht aus. Es braucht eine Tabula rasa in Österreichs Sicherheitspolitik."

Wenig angetan von den Wiederbelebungsversuchen ist Gustav Gustenau. Der Brigadier im Ruhestand hat in den vergangenen Jahrzehnten an der Erstellung mehrerer Strategiepapiere des Bundesheeres mitgewirkt. "Der einzige Vorteil der umfassenden Landesverteidigung ist, dass sie in der Verfassung steht", sagt Gustenau. Für die heutige Zeit sei das Konzept aber kaum noch brauchbar, bemängelt der Sicherheitsexperte.

In Verfassungverankert

Die umfassende Landesverteidigung wurde im Jahr 1975 im Bundes-Verfassungsgesetz verankert. "Österreich bekennt sich zur umfassenden Landesverteidigung", heißt es in Artikel 9a. Aufgabe sei es, "die Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität".

Es handle sich um eine Staatszielbestimmung, sagt Verfassungsrechtler Peter Bußjäger. Wie bei anderen Staatszielen sei die normative Wirkung eine "bescheidene": "Es ist ein Auftrag an den Gesetzgeber und die Vollziehung, dieser verfassungsgesetzlichen Vorgabe Rechnung zu tragen." Inwieweit das aber beachtet werde, liege im Spielraum des Gesetzgebers und der Vollziehung.

Die umfassende Landesverteidigung ist in vier Bereiche untergliedert: die militärische, geistige, zivile und wirtschaftliche Landesverteidigung. Damals habe es sich um ein "bahnbrechendes Konzept" gehandelt, sagt Feichtinger: "Man hat beschlossen, dass es nicht nur die militärische Landesverteidigung gibt, sondern dass alle relevanten Bereiche mitgedacht werden sollen."

Zuständig dafür sind jeweils unterschiedliche Ministerien. Die militärische Landesverteidigung ressortiert beim Verteidigungsministerium, die wirtschaftliche beim Energie- und Wirtschaftsministerium und die zivile beim Innenressort. Die geistige Landesverteidigung ist dem Bildungsministerium zugewiesen und dient vor allem dazu, die Wehrfähigkeit der Bevölkerung zu erhalten. Dabei gehe es vor allem darum, der Bevölkerung klarzumachen, "dass es schützenswerte materielle und ideelle Güter gibt", sagt Brigadier Erich Cibulka, Präsident der Österreichischen Offiziersgesellschaft. In den 1970er Jahren habe es auch einen Erlass gegeben, wie die Schüler im Hinblick auf die einzelnen Anlassfälle vorzubereiten und zu unterrichten seien.

Kalter Krieg als Ausgangspunkt

Geprägt war die umfassende Landesverteidigung zum Zeitpunkt ihrer Erlassung vom Kalten Krieg. Im Mittelpunkt seien ein möglicher Angriff des Warschauer Pakts und drei Anlassfälle gestanden, sagt Gustenau. "Der Krisenfall hat ein Szenario vor dem Beginn eines Krieges betroffen, der Neutralitätsfall einen Angriff des Warschauer Pakts auf einen Nachbarn Österreichs und der Verteidigungsfall einen direkten Angriff auf Österreich."

Mit dem Ende des Kaltes Krieges sei die umfassende Landesverteidigung "sanft entschlummert", sagt Cibulka. Das habe sich etwa bei der geistigen Landesverteidigung gezeigt. Die Vorbereitung auf Anlassfälle sei der Friedenspädagogik gewichen.

"Das bereitet halt nicht darauf vor, wenn dann doch ein Feind da ist", meint Cibulka. In einer Studie des Meinungsforschers Peter Hajek gaben im Juni 2022 insgesamt 31 Prozent der Befragten an, Österreich im Falle eines militärischen Angriffs mit der Waffe verteidigen zu wollen. "Bei der geistigen Landesverteidigung ist im Bildungswesen zwanzig Jahre nichts geschehen", kritisiert Gustenau.

Auch die Miliz verlor über die Jahre an Bedeutung, die verpflichtenden Übungen wurden unter Schwarz-Blau abgeschafft. Zugleich nahmen die Ministerien das Konzept immer weniger ernst. Für die Koordinierung der einzelnen Ressorts war während des Kalten Kriegs und bis in die 2000er-Jahre das Bundeskanzleramt zuständig. "Ich war damals im Kanzleramt tätig und bin in die einzelnen Ministerien gepilgert", schildert Feichtinger. Es sei aber herausfordernd gewesen, zu eruieren, wo genau die Aufgaben rund um die umfassende Landesverteidigung in den einzelnen Ressorts angesiedelt sind und wer dafür zuständig ist. "Heute ist das ja noch viel schwieriger", sagt er.

Die Koordinierung wurde vom Bundeskanzleramt letztlich auf das Innenressort übertragen. Dieses ist bereits für die zivile Landesverteidigung zuständig, also vor allem den Schutz im Inneren und die Katastrophenhilfe. Cibulka hält diese Verlagerung für "skurril": "Eine der vier Säulen ist damit gleichzeitig auch der Koordinator aller anderen." Cibulka und Feichtinger erachten das für eine Fehlentwicklung, die revidiert werden müsse. "Es geht um eine gesamtstaatliche Materie, die jedenfalls ins Bundeskanzleramt gehört", sagt Feichtinger.

Ruf nach neuerSicherheitsdoktrin

Gustenau hält es für den falschen Weg, sich nun allzu sehr auf die umfassende Landesverteidigung zu konzentrieren: "Jetzt wieder damit zu kommen, ist konzeptionell ungenügend." Denn es handle sich um ein altes Konzept, das noch klar die Raumverteidigung ab der Staatsgrenze im Visier habe. Damit könne aber auf neue Risiken wie hybride Bedrohungen und großflächige Terrorangriffe nicht reagiert werden. "Außerdem kommen in diesem Konzept die Außenpolitik und die EU-Perspektive gar nicht vor", bemängelt er.

Punktuell könne die umfassende Landesverteidigung in ein größeres Konzept eingebettet werden, "etwa eine neue Sicherheitsdoktrin", sagt Gustenau. Die Doktrin wurde in Österreich zuletzt im Jahr 2013 aktualisiert. Nun müsse sie aufgrund all der Entwicklungen der vergangenen Jahre wieder neu gedacht werden: "Denn die umfassende Landesverteidigung selbst ist keine Sicherheitsdoktrin", so der Sicherheitsexperte.

Nach Meinung Feichtingers sollte die umfassende Landesverteidigung "aus der damaligen Zeit nicht eins zu eins in die heutige Zeit übertragen, sondern übersetzt werden". Denn: "Die Außenpolitik, die EU-Ebene und auch die ökologische Dimension fehlen sicher." Der Grundgedanke des Konzepts - eine systematische Zusammenschau aller relevanten Bereiche - sei aber richtig: "Es gilt, ihn an die heutige Zeit anzupassen."