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Contenance und Demut

Von Reinhard Göweil

Leitartikel
Chefredakteur Reinhard Göweil.

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der Irak droht zu zerfallen; in Westeuropa nehmen antisemitische Übergriffe bedrohlich zu; die Wirtschaftskrise schlummert, ist aber nicht beendet; im Osten der Ukraine wird immer noch geschossen; das Mittelmeer wird zum Flüchtlingsstrom; 27 Millionen Europäer suchen Jobs.

Die europäischen Regierungschefs hätten - gemeinsam mit dem EU-Parlament - ausreichend Themen, die den Bürgern der Union unter den Nägeln brennen. Es wäre ganz großartig, wenn sich die 28 Regierungschefs zu informellen Klausuren treffen würden, um diese Themen zu besprechen, mit der klaren Vorgabe, Lösungen zu entwickeln.

Stattdessen ergehen sie sich lustvoll in einem Machtkampf um die Frage, wer der nächste EU-Kommissionspräsident sein wird. Und das Europäische Parlament tappt in diese Falle und warnt nun vor einer "institutionellen Krise", wenn es dessen Kandidat Jean-Claude Juncker nicht werden sollte.

Es ist politisch unumgänglich, dass die Causa besprochen wird, aber doch nicht über Monate. Cameron will Juncker nicht, okay. Das hat er in einem Gastbeitrag (in Österreich von der "Wiener Zeitung" veröffentlicht) noch einmal deutlich gemacht.

Doch auch Cameron bleibt die Antworten auf die brennenden europäischen Fragen schuldig, wie die anderen 27 auch. "Weniger Europa" - was ist das? "Mehr Europa" - worin besteht das mehr? Die Regierungschefs wollen nun über diese Inhalte reden, bevor über Namen entschieden wird. Das ist großartig, aber warum tun sie es nicht? Die Wahl war am 25. Mai, seither steht die Partie. Und wenn es nach den Regierungschefs geht, steht sie noch bis September.

Warum?

Etwas mehr Contenance und Demut würden dem europäischen Spitzenpersonal (zu dem auch alle 28 Regierungschefs gehören) gut anstehen. Die Probleme liegen offen auf dem Tisch, es gibt zu jedem mittlerweile dutzende Analysen und Lösungsmöglichkeiten. Wenn sich der Rat also am 27. Juni trifft, wäre es angesagt, gleich die Inhalte zu besprechen und sich nicht bis September zu vertagen. Bis dahin könnten die Themenbereiche mit den Parlamentsspitzen abgeklärt werden. Mehr Europa bedeutet, mehr Zeit, Engagement und Hirnschmalz darin zu investieren. Blöde Machtkämpfe kosten nur Zeit - und verursachen verdammt viel Leid und Geld.