Mit seinem ersten Parteitagsauftritt hat sich Labours neuer Vorsitzender jetzt der Nation als radikaler Reformer vorgestellt.
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London. Mit einem Appell an "die freundliche, die fürsorgliche" Seite seiner Landsleute hat am Dienstag Jeremy Corbyn, der neue Vorsitzende der britischen Labour Party, grundlegenden Wandel im Vereinigten Königreich gefordert. "Fair Play für alle" brauche die britische Gesellschaft, erklärte der Linkssozialist, der seit zweieinhalb Wochen Parteichef und britischer Oppositionsführer ist.
Auf dem Labour-Parteitag im Seebad Brighton bezeichnete Corbyn "Solidarität" und "gegenseitigen Respekt" als "gemeinsame Werte einer Mehrheit aller Briten", die es zu mobilisieren gelte. Man dürfe nicht länger "Menschen den Rücken kehren, die in Schwierigkeiten sind", sagte Corbyn, und sich von "den wenigen", die Reichtum und Einfluss hätten, seine Lebensbedingungen diktieren lassen.
Eine künftige Labour-Regierung würde nach Corbyns Vorstellungen den Armen und Mittellosen massiv unter die Arme greifen, den Mittelstand konsolidieren und die Existenz von Freiberuflern absichern. Die Wohlhabenden im Lande müssten sich dagegen stärker am "Gemeinwohl" beteiligen. Und Großkonzernen auf der Insel sollen Vergünstigungen gestrichen werden.
Auch eine langfristig angelegte Rückführung des britischen Eisenbahnwesens in Staatsbesitz und die Gründung einer Nationalen Investment-Bank zur Förderung öffentlicher Investitionen - zum Beispiel umfassender Bauprojekte - gehören zum Programm, mit dem Corbyn und sein Schatten-Schatzkanzler John McDonnell im Gegenzug zur Tory-Politik radikalen Wandel bewerkstelligen wollen.
Natürlich müsse das Land sich "im Rahmen dessen bewegen, was es sich leisten kann", hatte McDonnell schon am Vortag eingeräumt. Innerhalb dieses Rahmens soll es aber statt verschärfter Austerität für die Massen mehr Steuern für Multis und wachstumsfördernde Maßnahmen geben.
Nach Kräften suchte Corbyn auf dem Parteitag seinem Image eines realitätsfernen Ideologen zu wehren. Ausdrücklich betonte er auch, wie sehr er sein Land und dessen Grundwerte liebe. Kurz nach seiner Wahl hatte der ewige Rebell und Antimonarchist sich in die Nesseln gesetzt, als er bei einer Feier zum Gedenken an die britischen Piloten des Zweiten Weltkriegs die Nationalhymne nicht mitsang. Inzwischen will er, bei seiner baldigen Aufnahme in den Kronrat, sogar gehorsam das Knie beugen vor der Königin.
Corbyn knickt unter Druck ein
Auch im Politischen ist der neue Labour-Chef, wo er unter Druck kam, Kompromisse eingegangen. Skeptisch in Sachen EU, hat er nach kurzem Zögern versichert, er trete für den Verbleib Großbritanniens in der EU beim kommenden Mitgliedschafts-Referendum ein, und wolle sich für ein "Europa der Solidarität" einsetzen.
Seit jeher strikt gegen die Erneuerung Tridents, der britischen Atomstreitkraft, hat Corbyn seinen Abgeordneten nunmehr eine Entscheidung ohne Fraktionszwang in dieser Frage zugestanden. Am Ende entschied sich die Partei dafür, das Thema Trident beim Parteitag gar nicht erst zu behandeln - obwohl ihr Vorsitzender eine Trident-Debatte für erforderlich hielt.
Dass Corbyn in den eigenen Reihen bereits an Grenzen stößt, schreibt sich die aus der Macht gepurzelte Parteirechte als ersten Erfolg gegen die neue linke Führung zu. Als Nächstes plant sie, Luftangriffen auf IS in Syrien zuzustimmen, denen sich Corbyn widersetzt. Viele Parteigrößen, die der Blair-Ära nachtrauern, weigern sich beharrlich, Corbyn zu unterstützen und dem Schattenkabinett beizutreten.
Der frühere Handelsminister Lord Peter Mandelson etwa meint mit Blick auf die Niederlage Ed Milibands bei der Parlamentswahl vom Mai abschätzig, die Partei habe "einen Verlierer durch einen anderen ersetzt". Mit Corbyn an der Spitze habe Labour "keine Chance, gewählt zu werden".
Prüfstein Gemeinderatswahlen
Abgeordnete wie Labours bisheriger Bildungs-Experte Tristram Hunt geben Corbyn Zeit bis zum nächsten Mai: Bei den dann stattfindenden englischen Gemeinderatswahlen, den Landtagswahlen in Schottland und Wales und den Bürgermeisterwahlen in London werde sich ja erweisen, ob Corbyn ein gutes Ergebnis einfahre - oder nicht. Entsprechenden Pessimismus in der Fraktion haben die ersten Meinungsumfragen hervor gerufen. Corbyn rangiert niedrig in der Popularitätsskala. Labour liegt mit 34 Prozent deutlich hinter den Tories mit 39 Prozent.
Corbyn selbst kann zwar, wie er in Brighton betonte, auf "ein enormes Mandat" nach seiner Wahl zum Parteichef durch fast 60 Prozent aller Stimmberechtigten verweisen. Und mehr als 50.000 neue Mitglieder sind der Partei allein in den letzten drei Wochen beigetreten. Die Umfragen zeigen allerdings, dass die Ansichten seiner enthusiastischen Gefolgsleute sich kaum mit Überzeugungen breiter Wählerschichten decken.