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Corona-Anstieg: Wie viel darf’s denn sein?

Von Simon Rosner

Politik
Wann ist es zuviel?
© WZ-Foto

Die Zahl der Corona-Toten ist weltweit auf mehr als 800.000 gestiegen. Wann wird der Anstieg der Corona-Infizierten richtig heikel? Eine Suche nach Antworten mit bedenklichen Funden.


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Weltweit sind bereits mehr als 800.000 Menschen an oder mit Covid-19 gestorben. Wie viele Infektionen können wir in Österreich akzeptieren? Die Frage soll nicht zynisch klingen, sie ist vielmehr relevant, gerade jetzt, da es täglich mehr Neuinfektionen gibt. Im Juni hatte Bundeskanzler Sebastian Kurz so eine Grenze genannt, bei der die Politik wieder aktiv werden müsse, nämlich wenn man wieder "in den dreistelligen Bereich" käme. Das ist jedoch schon längst der Fall. Am Freitag waren es wieder mehr als 300 Neuinfektionen.

Im Frühling gab es ein klares Ziel der kollektiven Kraftanstrengung: Die Überlastung des Gesundheitssystems muss verhindert werden. Jetzt fehlt diese Zielsetzung, und das erschwert die Steuerung für Politik und Verwaltung. Weniger Erkrankungen sind zwar besser als mehr, die meisten Gegenmaßnahmen verursachen aber andere Kosten und Schäden, ökonomisch, sozial bis hin zu Einschränkungen im Gesundheitssystem für Personen mit anderen Erkrankungen, wie das für März und April dokumentiert wurde.

Wie viel darf’s also sein? Die Überlastung des Gesundheitssystems ist keine Messgröße mehr. Etwas mehr als 100 Personen waren zuletzt im Spital, etwa 20 davon auf einer Intensivstation. Dieser Anteil der Intensivbettpflichtigen von aktuell einem Prozent würde sich zwar erhöhen, wenn sich wieder mehr ältere Personen anstecken, dennoch würde das Gesundheitssystem wohl 50.000 gleichzeitig Infizierte aushalten - das wären zwischen 3000 und 4000 Neuinfektionen pro Tag. Aber halten wir das wirklich aus?

Wenn man den Simulationsexperten Niki Popper von der TU Wien und Herwig Ostermann, den Chef der Gesundheit Österreich, nach einer Zahl fragt, erhält man keine. Nur so viel: "Bezüglich der Erkrankungszahlen halten wir mittlerweile höhere Zahlen aus, bei der Dynamik der Ausbreitung ist das anders, die ist natürlich gleich geblieben", sagt Popper.

Diese "Dynamik" ist entscheidend, sie lässt sich aber nicht durch eine Zahl definieren. Deshalb auch die Idee der vierfarbigen Ampel, um mehrere Kriterien heranzuziehen und regionalisieren zu können und dennoch eine verständliche Darstellung zu ermöglichen: Grün, Gelb, Orange, Rot.

Quarantäne und Teststrategie sehr unterschiedlich

Rot ist kritisch, dann werden auch wieder teure Gegenmaßnahmen zum Einsatz kommen. Epidemiologisch wäre das der Schritt von Mitigation zu Suppression, also von Linderung zur Unterdrückung wie im März, wenn auch nur regional. Das sollte aber verhindert werden, um die Kollateralschäden möglichst gering zu halten.

Die gute Nachricht hat Popper parat: "Es kann sehr gut funktionieren", sagt er. Weil die Epidemie vorrangig von Superspreadern angefacht wird, muss der Fokus auf diesen liegen. Der deutsche Virologe Christian Drosten befürwortet, bei ersten Hinweisen auf größere Cluster sehr umfassend und rasch die Kontakte zu isolieren. Dafür zuständig sind in Österreich die lokalen Gesundheitsbehörden, diese sind auch fürs Testen verantwortlich. "Wenn wir genug testen, haben wir eine Chance", sagt Popper.

Österreich testet europaweit zwar viel, Dänemark zum Beispiel aber doppelt so viel. Es ginge wohl auch hierzulande mehr. Ein Blick auf die Bundesländer-Daten zeigt aber auch, dass es an Kohärenz fehlt. Pro 100.000 Einwohner hat Wien bisher 14.100 Tests durchgeführt, Tirol sogar 23.700, die Steiermark aber nur 7800. Sonst liegt nur Niederösterreich über der 10.000er-Marke.

Relevant ist auch der Anteil von bereits isolierten Personen an den positiv Getesteten. Wer schon unter Quarantäne steht, kann kein Superspreading mehr auslösen. In Wien lag der Wert schon bei über 70 Prozent, durch infizierte Reiserückkehrer fiel er etwas. "Ein identifizierter Fall macht uns keine Sorgen, was das Infektionsgeschehen betrifft", sagt Ostermann.

Bedenklich stimmen die teils sehr unterschiedlichen Zahlen zur Quarantäne. In Wien sind bei 1300 Infizierten mehr als 6000 Personen in Quarantäne. Auf einen Infizierten kommen rund fünf enge Kontaktpersonen, die ebenfalls abgesondert sind, in Niederösterreich sind es sogar zehn. In Salzburg kommen auf einen Infizierten jedoch nur 2,7 Kontaktpersonen. Und das bei weniger Tests.

Vielleicht leben Salzburger sehr zurückgezogen. Vielleicht aber funktioniert das Contact Tracing weniger gut. Die Ampel wird uns die Antwort bald leuchten. Aus Niederösterreich ist zu hören: Die Kapazitäten für den Gesundheitsdienst sind noch nicht ausgeschöpft. Es darf also noch mehr werden. Aber wie viel? Eine Zahl lässt sich auch da nicht sagen.