Grün, Gelb, Orange: Die herbstliche Infektionswelle bringt nicht nur Farben, sondern täglich neue Zahlen. Was sagen sie aus?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wenn das Leben nur so einfach wäre. In der Leichtathletik lässt sich klar feststellen, ob ein Weltrekord übertroffen wurde, und im Tennis zählt die Punktezahl. Die Frage nach dem weltbesten Hotel ist schon schwieriger, da Hotelsterne nach Qualitäts- und Leistungskriterien vergeben werden und die Häuser den Geschmack der anonymen Gutachter treffen müssen.
Noch schwieriger ist es beim Einrichten einer Corona-Ampel. Was unter Leichtathleten die Simplizität des Zentimeters ist, sind nach Vorstellung der Bundesregierung vier Kriterien, die einen Farbwechsel zur Folge haben können: Infektionsrisiko, Ansteckungsquelle, Management- und Verwaltungsressourcen und Zahl der Testungen. In Ziffern heißt das zunächst einmal: Ab 25 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner mit zehn Fällen innerhalb einer einzigen Personengruppe gilt Gelb, ab 50 von 100.000 Orange und ab 100 von 100.000 Rot.
Doch die Komplexität des Krankheitsgeschehens macht es unglaublich schwer, die Pandemie in simple Zahlen zu fassen. Daher bezieht die Kommission qualitative Kriterien mit ein. Neue Fälle, die auf Urlaubsrückkehrer zurückzuführen sind, fallen weniger ins Gewicht als unklare Ursachen. Oder die Mobilität durch den Pendlerverkehr hat zur Folge, dass die Farben von Ballungsräumen auf die Einzugsgebiete ausgedehnt werden.
Innerhalb von wenigen Tagen sprangen Wien, Innsbruck, Kufstein, Dornbirn, Bludenz, Mödling und Neunkirchen von Grün jedenfalls auf Gelb und dann weiter auf Orange. Geht es nach dem "Manual Ampelsystem" des Gesundheitsministeriums, könnte dies neben der Maskenpflicht weitere Begrenzungen bei Veranstaltungen, teilweises Homeschooling und die Vorverlegung der gastronomischen Sperrstunde zur Folge haben. Je nachdem, wie sich das Umfeld gestaltet - und wie sich "die Zahlen" entwickeln.
Die Quadratur des Kreises
Am Montag bezifferte das Dashboard des Gesundheitsministeriums die neu positiv getesteten Fälle mit 709. Wie viele dieser Personen krank und ansteckend und wie viele bereits genesen, aber noch Corona-positiv sind, ist nicht ausgewiesen. Auch ob die Cluster beherrschbar sind, zeigen die Zahlen freilich nicht. Auf eine durchaus kritische Situation würde aber die Menge der Neuinfektionen in Prozent der durchgeführten Tests hinweisen.
Am 8. September, also vor genau einer Woche, als Österreich nicht 709, sondern noch 520 neue Corona-Fälle zählte, waren das 5,1 Prozent der an diesem Tag ausgewerteten PCR-Tests. Vor genau fünf Monaten, am 8. April, lag dieser Satz bei 5,2 Prozent. Allerdings waren damals 5.520 Ergebnisse ausgewertet worden.
Ist das Pandemie-Geschehen gleich? Nicht ganz. Während des Lockdown wurden nämlich nur Personen mit Symptomen getestet, was die Chancen auf positive Ergebnisse und somit die Werte erhöhte. Damals befanden sich zahlreiche Personen in Intensivstationen, während die Kapazitäten heute nahe ungenützt sind. Zudem werden derzeit mehr jüngere Menschen getestet, die etwa gemeinsam im Urlaub waren. Dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Jungen die Älteren anstecken. Da aber wiederum kann die Medizin jetzt, im Herbst, auf die Erfahrungen in der stationären Behandlung von Covid-19 aus dem Frühjahr zurückgreifen. So verständlich die Sehnsucht nach einem Rahmenwerk für Vergleichbarkeit also auch sein mag: Eine perfekte Verallgemeinerung von Zahlen wird in absehbarer Zeit nicht möglich sein.
Das nachvollziehbare Bestreben, die Corona-Ampel transparent zu machen, ist wie die Quadratur des Kreises, beginnend mit der Zahl der Tests und Fälle als Kriterium. "Ein PCR-Test weist Virus-Bestandteile im Nasen-Rachenraum noch Wochen nach einer Infektion nach. Er gibt aber weder verlässlich Aufschluss, ob jemand erkrankt ist, noch ob er infektiös ist", sagt Public-Health-Experte Martin Sprenger. "Der Test ist so sensitiv wie die Spurensicherung: Rückstände des Virus kann er noch in Abwasseranlagen messen, wenn nur ein einziger von 100.000 Einwohnern Sars-CoV-2 ausscheidet."
PCR-Spurensicherung
Die Methode der PCR (Polymerase Chain Reaction) verdopple Gen-Sequenzen des Virus in zahlreichen Schritten. Je öfter man diese Schritte wiederholt, desto größer werden die Chancen, virale Erbgut-Spuren zu finden, beziehungsweise ein positives Messergebnis zu erhalten. "Viele Ergebnisse sind somit zu schwach positiv für Infektiösität und Krankheit", erklärt Sprenger. "Zudem kennen wir die Anzahl der tatsächlich durchgeführten Tests in Österreich nicht, denn nur die positiven Tests sind meldepflichtig."
Jedes positive Testergebnis, egal ob es ein Apotheker, ein Rettungsfahrer, eine Allgemeinmedizinerin, eine Gesundheitsbehörde oder jemand im Selbsttest durchführt und einschickt, wird gemeldet. Über die Negativ-Ergebnisse - und das sind die meisten - wird nicht Buch geführt. "Außerdem fließen nur Tests durch die Gesundheitsbehörden in die Statistik ein. Die Gesamt-Testmenge fehlt", sagt der Grazer Public-Health-Experte.
Wie viele Menschen an Covid-19 erkranken, lässt sich auch deswegen schwer beantworten, weil es offenbar keine Übereinstimmung gibt, wann es Covid ist. Laut dem Zentrum für evidenzbasierte Medizin der britischen Universität Oxford fehlt eine einheitliche, in allen Ländern geltende Definition der neuen Lungenkrankheit. Nach welchen Kriterien werden Krankenhausfälle in Österreich als Covid-19-Fall geführt und in die offizielle Statistik aufgenommen? Auch das wissen wir nicht. Positiv getestet zu sein ist Grundvoraussetzung. Aber muss jemand auch ansteckend sein, oder eine Lungenentzündung, ein bestimmtes CT-Bild oder nur Kopfschmerzen haben?
Laut dem Oxford-Bericht folgen unterschiedliche Länder dabei jeweils anderen Kriterien. Somit sind auch die Eintrittskriterien für nationale Dashboards anders. Es könnte also durchaus vorkommen, dass jemand wegen eines Verkehrsunfalls im Spital ist, aber weil positiv getestet als Corona-Fall geführt wird.
Immer diffusere Cluster
Der Simulationsexperte Niki Popper von der Technischen Universität Wien sieht noch ein weiteres Problem. "Das Pandemiegeschehen lässt sich mit Netzwerkmodellen beschreiben, die die Auswirkungen verschieden gearteter Interventionen errechnen. Mangels Erfahrungswerten ist das Ganze aber ein Experiment bei Vollbetrieb", sagt Popper. Anders als bei der Behandlung von Patienten, die auf Basis klinischer Tests in verschiedenen Krankheitsstadien bestimmte Medikamente bekommen, steht die Corona-Ampel für Maßnahmen ohne klinische Tests - in der Hoffnung, dass es die richtigen sind.
"Für die Dynamik ist die Zahl der gelöschten Cluster mit am wichtigsten", erklärt Popper. Das ist die Zahl der positiven Fälle, die einem klaren ursächlichen Fall und damit einer Ansteckungskette zugeordnet werden können. "Zum Beispiel war das Infektionsgeschehen in Sankt Wolfgang relativ rasch gebändigt, weil man die Verursachenden herausholen konnte. Wir sehen aber jetzt diffusere Cluster und mehr Fälle, deren Ursache sich nicht identifizieren lässt. Das bedeutet, dass eine Epidemie entstehen könnte, die wir nicht mehr kontrollieren können."
Ressourcen für Tracing fehlen
Im Klartext heißt das, dass Österreich bald in eine Situation rutschen könnte, in der sich die Pandemie nicht - wie von der Ampel vorgesehen - durch lokale Maßnahmen begrenzen lässt, weil die Seuche lokale Mini-Epidemien überschreitet und sich weit darüber hinaus verbreitet.
An sich sollte das Contact Tracing, auch Track-Trace-Isolate oder TTI genannt, all dies verhindern. Und wenn verschiedene Faktoren, wie die Rückkehr in geschlossene Räume und dadurch reduzierte Abstände die Neuinfektionen begünstigen, müsste TTI umso besser funktionieren. Das Problem ist aber, dass genau das Gegenteil passiert: Je mehr Menschen krank sind, umso schneller steigt der Aufwand für TTI, und es sinkt vermutlich die Geschwindigkeit. "Niemand kann sagen, dass die steigenden Zahlen überraschen. Zudem wissen wir weder, wie lange es dauert, zu testen, zu tracken und zu isolieren, noch welche personellen Ressourcen es dafür gibt", sagt Popper.
Ergebnis: Die Menschen werden krank. Ob es eine zweite Welle ist, hängt davon ab, wie man "Welle" definiert. Am Montagabend räumte jedenfalls der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker in der "ZiB2" ein, dass die Ressourcen für Personal im TTI aufgestockt werden müssten.
Und noch etwas fehlt: der Vergleich zu früher. "Wir erfassen seit 1997 Diagnosen von Infekten der oberen und unterem Atemwege im stationären Bereich. Ich hätte gerne einen Schnitt der letzten fünf Jahre im Vergleich zu heuer, das wäre eine ehrliche Kurve", sagt Sprenger: "Mein Verdacht ist, dass wir derzeit darunter liegen, weil die Virensaison in diesem Herbst zwar begonnen hat, aber durch viele Maßnahmen gebremst wird."
Und das ist möglicherweise ebenfalls ein Problem. Denn im Frühjahr kam die Pandemie, bevor wir gegensteuern konnten. Heute halten wir Abstand, tragen Masken. Trotzdem steigen die "Zahlen" - und steigt der Druck.