Was gerade schiefläuft und was geändert werden sollte, erklärt Wirtschaftsphilosoph Anders Indset.
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Krisen waren immer Quelle für etwas Neues. Doch ist die derzeitige Pandemie groß genug, um Verfehlungen unseres Wirtschaftssystems gerade zu biegen? Wirtschaftsphilosoph Anders Indset über die Macht von digitalen Konzernen, Millionen von Arbeitslosen und die Rolle von Politik und Wirtschaft:
"Wiener Zeitung": Herr Indset, Covid-19 wird immer wieder mit Katastrophen wie Weltkriegen, Spanischer Grippe oder Pest verglichen. Wie sehen Sie das?
Anders Indset: Ich vergleiche das nicht. Wir erleben durch Covid-19 nicht dasselbe Leid. Natürlich sind die Todeszahlen hoch. Diese sind aber weit von den Katastrophen entfernt, die Sie aufgezählt haben.
Könnte es dennoch zu ähnlichen Effekten kommen? Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die UNO und die EU gegründet, es gab bedeutend mehr Demokratie und Mitsprache als je zuvor.
Not macht erfinderisch. Nur bei den gestalterischen Entitäten, die heute etwas tun könnten, gibt es keine Krise. Die fünf großen Player Amazon, Apple, Google, Facebook und Microsoft, die die Welt mit ihrem Einfluss kontrollieren, gewinnen sogar. Dabei waren diese Player bereits vor Covid-19 mehr wert als die meisten Staaten. Warum sollten die nun eine Veränderung in der Gesellschaft herbeiführen? Ich sehe daher nicht, dass sich die Dinge ändern werden. Dabei sollten wir über Lösungen sprechen.
An welche Lösungen denken Sie?
Covid-19 hat uns aus unserem 50-jährigen Nickerchen wachgerüttelt. Aber so richtig substanziell hat es uns nicht bewegt. Wir agieren gegen das Virus, aber nicht gegen die existenzielle Bedrohung durch den ökologischen Kollaps. Wir haben die Vision, auf den Mars zu reisen, und vergessen auf unsere Erde.
Welche Zukunft ist für uns erstrebenswert?
Es gibt ganz viele Menschen, die müde sind. Unsere individuelle Freiheit kann es nur geben, wenn das Allgemeinwohl funktioniert. Und da haben wir das Vertrauen verloren. Wir erleben gerade einen Wachrüttelmoment und was sehen wir? 100.000 neue Arbeitsplätze bei Amazon und zwei Millionen Arbeitslose im Handel. Das ist nicht erstrebenswert.
Also ändert sich doch was?
Ich wollte mit dieser Zahl die Relation zeigen. Wenn die Oma einen Amazon-Account hat, dann wird sie nicht mehr jeden Tag in den Supermarkt gehen, um einzukaufen. Wenn mehr Menschen im Homeoffice arbeiten, dann wird es auch weniger Spontaneinkäufe nach Feierabend geben. Das heißt: Der Handel, der schon vor Corona Schwierigkeiten hatte, ist jetzt voll betroffen. Es offenbart sich, dass dieses Geschäftsmodell nicht mehr tragfähig ist. Die Effizienz, mit der Amazon arbeitet, steht in keinem Verhältnis zu dem Personalaufwand in einem physischen Laden. Deshalb trifft es viel mehr Menschen, als Amazon einstellt.
Wie kann diese Entwicklung gestoppt werden?
Wir brauchen ein Verständnis für die exponentiell wachsende Technologie. Wenn wir seit zehn Jahren wissen, dass in einem Elektroauto nur ein Bruchteil der Teile verbaut wird, wie in einem Diesel oder Benziner, dann hätten wir auch wissen können, dass die ganze Automobilzulieferindustrie wegbrechen wird. Warum bereiten wir uns nicht darauf vor? Stattdessen wundern wir uns. Natürlich müssen wir die Menschen mitnehmen, aber wir müssen uns auch vor zukünftigen Problemen schützen.
Millionen von Menschen sind in der Corona-Krise arbeitslos geworden. Jetzt kann man sagen, dass ihre Jobs ohnehin nicht mehr konkurrenzfähig waren. Nur was machen wir jetzt mit diesen Menschen?
Ein Thema ist sicher ein Grundeinkommen, ein Thema ist auch Arbeitsaufteilung, als solidarischer Mittelweg. Nicht nach dem Leistungsprinzip, sondern nach dem Verteilungsprinzip. Das unterstütze ich total. Nur dafür müssen wir uns ändern.
Wer soll diesen Wandel organisieren?
Da sind wir beim Kernproblem. Wir haben ein politisches System, das bewahrt und verwaltet und das erst etwas ändert, wenn der Schmerz der Bürger zu groß wird. Nur dann kann es zu spät sein. Es muss daher aus der Wirtschaft kommen. Die Politik soll bewahren und verwalten, die Wirtschaft muss gestalten.