Ausgangssperre und Co. haben keinen Einfluss auf das Ökosystem - dieses könnte aber von den Erfahrungen profitieren.
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Ob Füchse in Wien oder Auerhühner in Tiroler Gärten. Seit Beginn der strengen Maßnahmen im Kampf gegen die Coronakrise wird von ungewöhnlichen tierischen Sichtungen berichtet. Auch Bilder und Videos wie jene der durch die Stadt wandernden Hirsche im japanischen Nara oder eines Pumas, der durch Santiago de Chile schleicht, haben sich seither gemehrt. Und weil nicht zuletzt der Wunsch der Vater des Gedankens ist, wurde auch von Delfinen vor der Küste Triests berichtet. Das dazugehörige im Netz kursierende Video soll allerdings nahe Sardinien aufgenommen worden sein. Mit Fakenews wird dem staunenden Volk noch eines draufgesetzt. In einem scheint man sich einig zu sein: Die tierischen Wanderungen sind Folge von Ausgangssperren und Co.
"Das sind allerdings alles Phänomene, die wir kennen", betont hingegen der Ökologe Johannes Rüdisser von der Universität Innsbruck im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" und lenkt damit auf den Boden der Tatsachen zurück. "Es ist nicht so, dass Tiere plötzlich auftauchen, wo sie zuvor nicht waren. Sie tauchen vielleicht eher auf, weil weniger Verkehr ist und weil weniger Menschen unterwegs sind." Damit Rückschlüsse auf eine mögliche, grundlegende Veränderung des Ökosystems zu ziehen, sei falsch. Die Coronakrise "habe relativ wenig Einfluss auf Ökosysteme oder die Biodiversität", dämpft der Experte aufkeimende Hoffnungen. Vielmehr kaschiert sie die derzeit brennenden globalen Umweltkrisen und verrückt den Fokus.
Auswirkungen gibt es dennoch: Die Luft ist klarer geworden. Gesunken ist nicht nur der Anteil an Luftschadstoffen, sondern auch die Feinstaubbelastung. Dies ist durchaus auf die Verlangsamung des wirtschaftlichen Alltags zurückzuführen. Satellitenbilder der European Space Agency (ESA) geben deutlich Aufschluss über diese Entwicklungen. Die Fabriken standen still, die Autos blieben in der Garage, die Flugzeuge im Hangar. Über Österreich seien die Stickoxidwerte teilweise um die Hälfte gesunken. Von diesen Auswirkungen profitieren in erster Linie wiederum die Menschen. Immerhin sind allein in Österreich pro Jahr 4000 bis 6000 frühzeitige Todesfälle auf die Luftbelastung zurückzuführen.
Anekdotische Berichte
Der Mensch profitiert auch von einem massiven Rückgang der Lärmbelastung sowohl durch den Individual-, den Straßen- als auch den Flugverkehr. "Ich bin öfters gefragt worden, ob jetzt die Vögel lauter zwitschern, weil wir nicht unterwegs sind", schildert Rüdisser. Nein: "Wir hören sie schlichtweg besser, weil der Umgebungslärm wesentlich geringer ist." Der Mensch gewöhnt sich schnell an Hintergrundgeräusche und filtert seinem Wohle entsprechend heraus. Geht der Lärm zurück, "hören wir plötzlich wieder andere Dinge". Die Vögel im Hinterhof waren also immer schon da.
Der Ökologe ist verwundert über die Tatsache, wie schnell derzeit solch anekdotische Berichte, die auch in der Vergangenheit keine Seltenheit waren, in den Sozialen Medien und Medien landen. "Ich habe das Gefühl, da besteht ein ganz großes Bedürfnis auch nach Naturbegegnung, Naturerlebnissen und auch danach, dies zu teilen."
Den Blick auch wieder auf die Umgebung um uns herum zu richten, ist ein Gebot der Stunde - vor allem wenn man berücksichtigt, dass nicht nur Infektionskrankheiten wie aktuell Covid-19 den Menschen dahinraffen können, sondern auch Klimawandel und Biodiversitätsverlust - also der Verlust der Artenvielfalt - zu einem Verlust an Wohlstand, Lebensqualität und letzten Endes auch von Menschenleben führen können. "Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft aus der derzeitigen Situation etwas lernen und sowohl die Entschlossenheit als auch die Möglichkeiten mitnehmen, um auch andere Krisen anzugehen", erklärt Rüdisser.
Rund um das Schnüren der Maßnahmen im Fall Corona wird viel auf Expertenmeinung gesetzt. Und das, obwohl die Faktenlage kaum unsicherer sein könnte. Wenn es um das Klima und um Biodiversität geht, sind die Wissenslage und die Datenlage bei Weitem besser. Der Ökologe pocht darauf, auch in diesen Krisen im politischen Handlungsspielraum weit mehr auf Expertenmeinungen zu setzen. Jetzt gelte es auch darauf zu achten, dass Finanzspritzen in aktuelle Hilfsmaßnahmen nicht den anderen Zielen zuwiderlaufen. So sollte es aktuell keine Förderungen geben, die den massiven Verbrauch fossiler Treibstoffe erneut ankurbeln.
Ähnliche Ursachen
"Die Klimakrise verschwindet nicht, nur weil wir uns mit etwas anderem beschäftigen", betont der Experte. Die Natur braucht uns Menschen nicht, aber wir sie. Der Mensch bezieht viele Leistungen und Güter aus der Natur und aus intakten oder leicht veränderten Ökosystemen. Eine große Bedeutung nehme die Biodiversität ein. Viele Arten, gekoppelt mit einer großen genetischen Bandbreite, bieten einem System die Chance, auf Veränderungen reagieren zu können. Die Vielfalt biete hier eine Art Rückversicherung auf ein erfolgreiches Überleben.
Im Vergleich zur Coronakrise seien das Klima und die Biodiversität andere Themen und Problematiken, "aber sie haben schlussendlich gesellschaftlich ähnliche Ursachen - nämlich unseren massiven Ressourcenverbrauch", warnt Rüdisser vor einer weiteren Ausbeutung. "Als Gesellschaft kommen wir nicht herum, zu überlegen, wie wir diesen transformativen Wandel anstoßen und einen solchen möglichst rasch in die Wege leiten können."
Zudem gebe es bereits Studien, die nachweisen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Auftretens von Zoonosen steigt, wenn Ökosysteme zerstört werden oder stark unter Stress kommen. Und wir leben in einer globalisierten Welt, die die Verbreitung solcher Erreger unterstützt. Die Tiere in der Stadt könnten als Weckruf gesehen werden, sich auch wieder der Umwelt und ihren Krisen zu widmen.