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Corona mag wehleidige Egoisten

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Warum die Annahme, der Mensch sei nicht imstande, seine Kontakte temporär zu reduzieren, nicht zutrifft.


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Weil der Bundeskanzler dieser Tage in sehr klaren Worten von den Menschen gefordert hatte, in den nächsten Tagen und Wochen möglichst niemanden zu treffen, denn "jeder Kontakt ist einer zu viel", setzte es eine eher kritische Würdigung in der "Neuen Zürcher Zeitung". Deren Chefredakteur höchstpersönlich befand: "Vielleicht war der barsche Befehlston die Reaktion darauf, dass Österreich zuvor in einer Mischung aus Habsburger-Nonchalance und administrativem Unvermögen Corona eine Spur zu leichtgenommen hatte. (. . .) Der Appell des Kanzlers lässt sich nicht umsetzen, denn der Mensch ist ein soziales Wesen. Sämtliche Aufforderungen, er solle sich wider seine Natur verhalten, werden wirkungslos verhallen."

Das ist aus zweierlei Gründen interessant und möglicherweise sogar falsch. Erstens mag die Behauptung, der Mensch sei aufgrund "seiner Natur" nicht imstande, für ein paar Wochen seine sozialen Kontakte extrem zu reduzieren - und nur darum geht es ja in diesem Kontext -, vielleicht in Westeuropa zutreffen, sicher nicht hingegen im wesentlich größeren östlichen Teil der Welt, etwa in China, Japan oder Vietnam. Zweitens spricht viel dafür, dass die vermeintliche oder auch tatsächliche Unfähigkeit der Europäer, für einige Wochen niemanden zu treffen, weniger an der "Natur des Menschen" liegt, sondern an einer seit Jahrzehnten erlernten überhedonistischen, extrem schmerzaversen und stets wohltemperierten Lebensart, die selbst kleinste Einschränkungen als Zumutung empfindet, selbst wenn diese für das Wohlergehen des Kollektivs notwendig sind.

Dass eine Gesellschaft, deren vorherrschender Charaktertyp der wehleidige Egoist ist, nicht für eine Zeit auf soziale Kontakte verzichten mag, dürfte also weniger an der menschlichen Natur denn an einem Mangel an bestimmten Charaktereigenschaften liegen. Dazu gehört vor allem, was man einst "Disziplin" nannte; eine heute weitgehend verpönte Tugend (auch so ein Wort), die meist nur noch ein paar alten weißen Männern erstrebenswert erscheint, also im reaktionären Milieu toxischer Maskulinität beheimatet ist. Weil "Disziplin" in weiten Teilen Asiens als selbstverständliche Notwendigkeit gilt, die von Kindheit an trainiert wird, ist dort die Bekämpfung der Pandemie viel effizienter möglich. Es ist also sichtlich keine Frage der "menschlichen Natur", sondern der kulturellen Prägungen, Erziehung und Mentalität. Vor allem aber, und das wiegt noch schwerer, impliziert die These von der "menschlichen Natur", die ausreichend soziale Kontakte erzwingt, die Unfähigkeit des Menschen, verantwortliche Entscheidungen zu treffen.

Nun sprechen so manche Szenen, die wir zuletzt erleben mussten, ja durchaus für diese These. Dies würde aber logisch zwingend bedeuten, dass zur Pandemiebekämpfung nicht nur auf Eigenverantwortung gesetzt werden kann, sondern auch auf staatliche Autorität gesetzt werden muss. Nur: Wer das akzeptiert, kann nicht gleichzeitig das ("Befehlston") dem Kanzler zum Vorwurf machen. Das wäre nämlich nicht wider die Natur, sondern vor allem wider die Logik.