Der KP-Chef schien allmächtig - doch nun untergäbt die größte Protestwelle seit Jahrzehntnen seine Autorität.
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Ein Funke genügt, um einen Steppenbrand auszulösen, sagte schon der Gründer von Chinas Kommunistischer Parte Mao Zedong. Und tatsächlich ist die Partei nun mit einem Brand konfrontiert, wie sie ihn seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Denn die Proteste gegen die strikten Corona-Maßnahmen treiben die Bürger von der östlichen Hafenmetropole Shanghai bis zur westlichen zentralasiatischen Provinz Xinjiang auf die Straße, die Demonstranten lassen ihrem Zorn über monatelangen Lockdowns freien Lauf und fordern ein Ende der strikten Maßnahmen. "Wir wollen wieder ein normales Leben führen. Wir wollen Würde haben", sagt ein junger Demonstrant in Peking der Nachrichtenagentur Reuters.
Damit ist etwas eingetreten, was die KP unbedingt vermeiden will: Eine Protestbewegung hat das ganze Land erfasst. Vereinzelte Demonstrationen sind in China gar nicht so ungewöhnlich, doch dabei geht es meistens um lokale Probleme, etwa um nicht ausgezahlte Gehälter für Arbeiter oder Umweltschäden. Die Behörden sollen solche Proteste unbedingt schnell wieder einfangen, bevor sie sich auf weitere Landesteile ausbreiten. Genau das ist jetzt aber nicht gelungen, teilweise waren sogar Rufe zu hören, die den Sturz der KP und ihres mächtigen Vorsitzenden Xi Jinping fordern.
Proteste haben riesiges Mobilisierungspotenzial
Gerät nun gar das ganze politische System ins Wanken? Das wohl eher nicht, meint die Sinologin und langjährige Beobachterin der chinesischen Politik Susanne Weigelin-Schwiedrzik. Die vereinzelten Rufe nach einem Umsturz würden zwar im Westen großen Widerhall finden, "sind aber meiner Ansicht nach nicht die Stoßrichtung dieser Demonstrationsbewegung", sagt die Professorin von der Universität Wien der "Wiener Zeitung". Den Bürgern ginge es vielmehr konkret um ihren Alltag und die Covid-Politik.
Um die Demonstrationen einordnen zu können, müsse man laut Weigelin-Schwiedrzik ihre Genese betrachten. Ausgelöst wurden sie durch einen Brand in einem Wohnhaus in Ürümqi, der Hauptstadt der Provinz Xinjiang. Bei dem Feuer sind mehrere Menschen gestorben, offiziell waren es 10 Todesopfer, laut den Betroffenen vor Ort waren es 44. Wegen des Lockdowns war das Haus offenbar derart abgeriegelt, dass niemand hinaus oder hinein konnte.
Nach dieser Tragödie kam es zu ersten Beileidskundgebungen in Ürümqi, die schnell auch zu Protesten gegen die Corona-Maßnahmen wurden. Denn dieses Ereignis hatte den Bürgern ganz deutlich vor Augen geführt, dass sie in derselben Falle sitzen könnten. Bald gab es derartige Demonstrationen im ganzen Land. Und weil sie eben als Trauerkundgebungen ihren Ausgang nahmen, konnte sie die Polizei auch nicht gleich niederschlagen.
"Dass die Proteste sich derartig unpolitisch formiert haben, ist für die Teilnehmer ein gewisser Schutz und für Xi besonders herausfordernd", analysiert Weigelin-Schwiedrzik. Denn er kann die Proteste nicht als Aufstand einer kleinen Randgruppe abtun. "Die Null-Covid-Politik betrifft potenziell 1,4 Milliarden Chinesen, und die Proteste haben deshalb ein ungemein großes Mobilisierungspotenzial." Das macht sie für Xi so gefährlich.
Denn viele Chinesen sind schon enorm frustriert: In manchen Gegenden, etwa in Xinjiang, sind die Bürger schon seit August in ihren Wohnungen eingesperrt. Sie bekommen von den Behörden zwar zu essen, aber auch das oft nicht einmal genügend. Und viele Kleinunternehmer haben, weil sie kaum soziale Hilfe bekamen, ihre Existenz verloren. "Viele Menschen halten diese Lockdowns einfach nicht mehr aus", betont Weigelin-Schwiedrzik.
Die Partei hält ihr großes Versprechen nicht ein
Trotzdem hält die Führung an ihrer Null-Covid-Politik fest. Bei einem plötzlichen Umschwung würde der große Vorsitzende Xi nämlich Fehler eingestehen.
Außerdem droht China bei einer schnellen Lockerung eine vollkommene Überlastung des Gesundheitswesens: Die Spitäler sind auf eine plötzliche Explosion der Infektionszahlen - derzeit sind es täglich etwa 40.000 Neuansteckungen - nicht vorbereitet. Zumal auch ein großer Anstieg der schweren Verläufe eintreten könnte, da die chinesischen Impfstoffe vergleichsweise ineffizient sind und von weiten Teilen der Bevölkerung nicht angenommen werden - Xi aber auch keine westlichen zulassen will.
Chinas starker Mann hat sich so mit seiner Null-Covid-Politik in die größte Krise seiner Amtszeit verrannt. Er bricht gerade das große Versprechen der Partei: Dass sie der Bevölkerung Sicherheit und wachsenden Wohlstand bringt - wofür die Bevölkerung wiederum den allumfassenden Herrschaftsanspruch der KP akzeptiert.
Freilich kann Xi die Proteste schnell niederschlagen lassen: Die KP kann auf einen massiven Sicherheitsapparat zurückgreifen und überwacht mit Gesichtserkennung und Tracing-Apps ihre Bevölkerung derart, dass sie wahrscheinlich die Identität der Demonstranten schnell herausfindet. Doch löst Xi damit nicht das grundlegende Problem: den massiven Unmut in der Bevölkerung wegen seiner Corona-Politik.
Xi delegiert das Problem nun nach unten
Allerdings zeichnet sich laut Weigelin-Schwiedrzik schon ab, welchen Ausweg Xi hier sucht: Er delegiert das Problem nach unten. Der KP-Chef hat nämlich nun die Provinzen dafür verantwortlich erklärt, dass sie diese Krise lösen. "Damit hat er sich wieder einen gewissen Spielraum geschaffen."
In den Provinzen können nun verschiedene Strategien ausprobiert werden: Indem etwa in der einen Region den Protesten mit großer Repression begegnet wird und in einer anderen die Lockdowns gelockert werden. Und was am besten funktioniert und am schnellsten die Proteste eindämmt, kann dann auf das ganze Land übertragen werden. Xi müsste dann nicht sofort in Widerspruch zu seiner bisherigen Politik gehen, sondern "er kann einfach behaupten, dass er die Politik umsetzt, die sich in der Praxis als am erfolgreichsten erwiesen hat".
Vorerst bleibt aber Xi in ungeahnter Bedrängnis. Noch nie war seine Autorität innerhalb und außerhalb der Partei derart in Frage gestellt: Erst kürzlich hat er beim Parteitag eine Machtfülle beansprucht, wie sie kein KP-Vorsitzender seit Mao hatte. Damit ist nun auch jede Krise viel stärker mit seiner Person verwoben.