Gezielte Kampagnen gefährden den politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ihre Intensität und Menge haben deutlich zugenommen.
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Eine Welt ohne die allgegenwertige digitale Vernetzung ist heute nur noch schwer vorstellbar. Das Internet mit all seinen Online-Diensten und Sozialen Medien ist zu einem ständigen Begleiter unserer Gesellschaft geworden, der sowohl den beruflichen als auch den privaten Alltag maßgeblich beeinflusst. Die meisten Informationen und Nachrichten werden über das Internet bezogen, insbesondere die jüngere Generation konsumiert Medien beinahe ausschließlich online. In den chaotischen Echokammern Sozialer Medien und Online-Foren durchqueren Meldungen geografische Räume, wobei die Authentizität der Beiträge kaum festgestellt werden kann. Die Grenzen zwischen Autoren und Lesern verschwimmen zunehmend. Die Chancen und Potenziale, die sich aus jener technologischen Entwicklung ergeben, werden nur durch die scheinbar neuartigen Bedrohungen und Herausforderungen überschattet: Desinformation ist eine davon.
Laut der EU-Kommission stellt Desinformation die beabsichtigte Erstellung und Verbreitung von nachweislich falschen oder irreführenden Informationen dar. Desinformation zielt darauf ab, die öffentliche Meinung und Wahrnehmung zu beeinträchtigen, soziale Spannungen zu verstärken sowie das Vertrauen in Regierungen und Institutionen zu untergraben. Die Intention, gezielt Unwahrheiten zu verbreiten, ist hierbei ausschlaggebend, da Satire oder Fehler in der Berichterstattung von der Definition ausgeschlossen sind. Systematische Desinformationskampagnen können daher als aggressive Form der Manipulation und Einflussnahme verstanden werden und gehören somit der Kategorie der hybriden unkonventionellen Bedrohungen an. Als subversives Konzept sowie als Mittel zur Täuschung ist Desinformation jedoch kein neues Phänomen. Schon Sun Tzu beschrieb vor 2.500 Jahren in seinem zeitlosen Werk "Die Kunst des Krieges" Strategien und Taktiken, um den Feind durch Falschinformationen zu schwächen. Angesichts der enormen Intensität und Geschwindigkeit, mit der Informationen heute über Online-Kanäle verbreitet, geteilt und kommentiert werden, steigt jedoch das Gefahrenpotenzial, das von Desinformation ausgeht.
Die schädliche Natur durchdachter Desinformationskampagnen entpuppte sich besonders während der Covid-19-Krise. Obwohl es insbesondere im Zusammenhang mit der EU-Wahl 2019, den "Gelbwesten"-Protesten in Frankreich 2018/2019 sowie dem Brexit-Referendum 2016 bereits zu massiven manipulativen und falschen Meldungen kam, nahm die Fülle an Covid-19-Desinformation 2020 ein beispielloses Ausmaß an. Innerhalb der österreichischen und europäischen Bevölkerung wurde die generelle Unsicherheit im Zusammenhang mit der Pandemie und ihren Folgen durch zahlreiche Falschinformationen zusätzlich befeuert.
Staatliche sowie nicht-staatliche Akteure erfanden und vervielfältigten verschiedenartige, teils widersprüchliche Narrative von Falschinformation und verbreiteten sie primär übers Internet. Diese Kampagnen umfassten eine Vielzahl an gefährlichen Falschmeldungen, von vermeintlichen Heilmethoden, welche die Einnahme von Kochsalzlösung oder Bleichmittel propagierten, bis hin zu xenophoben Berichten, die geflüchtete Personen für die Ausbreitung des Virus verantwortlich machten.
Gegenmaßnahmen der EU
Ein Großteil der Desinformationen richtete sich direkt gegen die EU und die nationalen Regierungen. Jene fälschlichen Behauptungen prophezeiten unter anderem, die EU oder einzelne Staaten würden an der Krise zerfallen, demokratische Systeme wären nicht adäquat gegen Krisensituationen gewappnet oder die EU würde einzelne Mitgliedstaaten aufgeben. Mittels solch überspitzter und irreführender Falschmeldungen wird versucht, einen gesellschaftlichen Vertrauensverlust in europäische und nationalstaatliche Institutionen zu schüren. Die Absicht, die öffentliche Meinung auf diese offensive und manipulative Art zu beeinflussen, kann als Angriff auf die Demokratie selbst gewertet werden.
Zur Untersuchung und Bekämpfung von Desinformation richtete der Europäische Auswärtige Dienst bereits 2015 die Plattform "EUvsDisinfo" ein, um Kampagnen (insbesondere aus Russland) besser vorherzusehen und effektivere Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Die Datenbank der Plattform registrierte den ersten Fall von Covid-19-Desinformation Ende Jänner 2020. Bis Anfang September wurden mehr als 600 Fälle analysiert und aufgelistet.
Auf den ersten Blick erscheint diese Statistik nicht besonders beunruhigend. Jedoch muss bedacht werden, dass laut Analysen jeder einzelne Fall von Covid-19-Desinformation zwischen 1.500 und 2.000 Interaktionen auf Sozialen Medien in Form von Kommentaren, Likes und Shares zur Folge hatte. Mit wenigen hundert gezielten Falschmeldungen können somit hunderttausende Menschen beeinträchtig und hinters Licht geführt werden. Zu Recht klassifizierte daher die Weltgesundheitsorganisation die Desinformationskampagnen im Zusammenhang mit Covid-19 als "infodemic" - als "Informationspandemie", die sich rasant und schleichend ausbreitet und wie das Virus selbst Leben direkt gefährden könnte.
Vertrauen zerstören
Vor allem Russland und China werden vermehrt als Ursprungsländer von Desinformationskampagnen genannt. Obwohl in den meisten Fällen keine direkte Verbindung zu den Regierungen beider Staaten feststellbar ist, kann aus der Analyse prorussischer beziehungsweise prochinesischer Narrative ein gewisser Konnex abgeleitet werden. Dabei ist speziell seit dem Auftreten von Covid-19-Desinformationen ein neuer Trend erkennbar. Ursprünglich kam es zu eindimensionalen Falschmeldungen, die europäische Akteure diskreditierten und regierungsfreundliche Berichterstattung forcierten. Innerhalb der vergangenen Monate lässt sich jedoch verstärkt eine neue Strategie feststellen, die eine gleichzeitige Verbreitung multipler Desinformationen mit teils widersprüchlichen Inhalten umfasst.
Ziel ist es, objektive und wahrheitsgetreue Berichterstattung durch eine Überflutung von Unwahrheiten zu diskreditieren. Innerhalb der europäischen Gesellschaft soll der Eindruck entstehen, man könne nichts und niemanden mehr trauen, da alle Informationen potenziell verfälscht sind. Während russische Akteure diese Methode bereits seit längerer Zeit verfolgen, scheint es, als ob prochinesische Quellen die russische Desinformationsstrategie teils übernommen hätten und diese seit geraumer Zeit auf ähnliche Art und Weise umsetzen.
Die EU und ihre Mitglieder sind gefordert, den latenten und verschleierten Gefahren der Desinformation mittels strategischer Gegenmaßnamen entgegenzuwirken. Die Initiativen der vergangenen Jahre, vor allem die Bekämpfung von Desinformationskampagnen im Zuge der EU-Wahl sowie die verstärkte Zusammenarbeit mit Online-Plattformen wie Google, Facebook und Twitter, sind wichtige Schritte in die richtige Richtung. Um die Stabilität und Autonomie der EU weiter auszubauen, bedarf es jedoch zusätzlicher koordinierter Gegenstrategien, einer verstärkten EU-weiten Zusammenarbeit sowie einer Förderung unabhängiger Medien und zivilgesellschaftlicher Akteure.
Individuell können wir einen wesentlichen Beitrag leisten, indem wir Online-Beiträge stets kritisch hinterfragen und die Fakten überprüfen, ehe wir Inhalte teilen oder kommentieren. Die gesellschaftlichen und politischen Bedrohungen durch Desinformationskampagnen werden uns noch länger verfolgen. Es ist daher notwendig, ein verstärktes Bewusstsein aufzubauen und neue Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.