Zum Hauptinhalt springen

"D-Day" für die Ukraine?

Von Michael Schmölzer

Politik

Gedenkfeier zur alliierten Invasion 1944 - Putin und Poroschenko reden erstmals über einen Waffenstillstand.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Caen/Washington/Moskau. Am 6. Juni 1944 landeten 156.000 alliierte Soldaten in der Normandie, 70 Jahre später strömten immerhin 19 Staats- und Regierungschefs aus allen Himmelsrichtungen herbei, um das Ereignis, das den Zweiten Weltkrieg entschied, zu feiern. Brisant war das Treffen auf geschichtsträchtigem Boden freilich wegen eines einzigen Gastes: Präsident Wladimir Putin. Der Kremlchef war seit dem russischen Einmarsch auf der Krim konsequent von westlichen Politikern gemieden worden. Doch diesmal gab es keine Möglichkeit, den kriegerischen Mann im Kreml auszugrenzen. Immerhin hatte Russland im Zweiten Weltkrieg die Hauptlast zu schultern, die Invasion in der Normandie brachte nur die von Stalin lang geforderte Entlastungsfront.

Queen Elizabeth II., die in einer giftgrünen Robe angereist war, stand diesmal mit Sicherheit nicht im Mittelpunkt des Interesses. Alle Augen waren auf Putin gerichtet, dessen Körpersprache von unzähligen Beobachtern genau analysiert wurde. Es war bereits im Vorfeld erwartet worden, dass es unter dem mahnenden Monument des 6. Juni 1944 zu einer Annäherung in der Ukraine-Frage kommen würde - doch diese Hoffnung wurde zunächst enttäuscht. Den Anfang machte der britische Premier David Cameron, der Putin bereits am Donnerstag Abend am Pariser Flughafen Charles de Gaulle traf und dem schwarzen Schaf aus Moskau prompt den üblichen Handschlag verweigerte. Der Brite machte klar, dass man fest an eine stabile Zukunft für die Ukraine glaube, das durch Russland geschaffene Chaos im Osten des Landes aber für eine nicht akzeptable Situation halte. Anspannung war auch beim Rencontre mit dem Gastgeber, François Hollande im Pariser Élysée-Palast spürbar; immerhin wurden jetzt Hände geschüttelt, doch hinter verschlossener Tür bekam Putin, dem zuletzt von US-Präsident Barack Obama "dunkle Taktiken" und "Aggression" vorgeworfen worden waren, mit Sicherheit Unfreundliches zu hören. Es soll hitzig über die Möglichkeit eines Waffenstillstandes diskutiert worden sein. Putin, der am 24. Juni in Wien erwartet wird, soll eingeräumt, haben, dass er einen "gewissen Einfluss" auf die pro-russischen Separatisten in Teilen der Ukraine habe. Hollande umschrieb das Gespräch nachher als "sehr offen".

Signale der Entspannung

Der französische Sozialist hatte die Feierlichkeiten in der Normandie lange geplant und genoss sichtlich die Rolle des Gastgebers. In dieser Funktion gelang es ihm, den neu gewählten ukrainischen Staatspräsidenten Petro Poroschenko und Putin zu einem Gespräch zusammenzubringen. Die Unterredung gilt bereits jetzt als historischer Moment. Der Franzose hatte alle anwesenden Staats- und Regierungschefs zuvor aufgerufen, den festlichen Anlass zu nutzen, um Spannung aus der Ukraine herauszunehmen.

Putin und Poroschenko verhandelten schließlich im Beisein von Kanzlerin Merkel etwa 15 Minuten über die Modalitäten eines Waffenstillstandes. Damit sprachen erstmals die tatsächlich relevanten Akteure in der Ukraine-Krise direkt miteinander. Der Schritt ist aus der Sicht Putins ein enormes Zugeständnis. Nach der Vertreibung des prorussischen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch hat Moskau die neue ukrainische Führung zuerst nicht anerkannt, dann aber erklärt, die Wahl Poroschenkos zum Präsidenten zu respektieren. Ob es tatsächlich gelungen ist, das Eis zwischen Kiew und Moskau zu brechen, ist unklar. Die Kämpfe zwischen Soldaten und Separatisten gingen am Freitag jedenfalls weiter. Rebellen griffen einen Kontrollposten in der ostukrainischen Stadt Slawjansk an und töteten dabei mehrere Soldaten. Die ukrainische Armee setzte zuletzt in blutigen Luftschlägen immer wieder Kampfflieger gegen die Separatisten ein.

Putin sprach in der Normandie jedenfalls mit einem Politiker, der offiziell noch gar nicht im Amt war. Poroschenko wird erst am Samstag offiziell in Kiew zum ukrainischen Präsidenten erklärt.

Vor den Verhandlungen mit seinem ukrainischen Gegenüber hatte Putin einen Spießrutenlauf durch ein Spalier ablehnender Blicke absolviert. Das Treffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel im französischen Deauville verlief in denkbar kühler Atmosphäre. Die Kanzlerin soll angeblich einen Plan auf dem Tisch gelegen haben, mit dem sie die schwerste Sicherheitskrise nach Ende des Kalten Krieges entschärfen will. Ob es diesen Plan tatsächlich gibt, wie er aussieht und ob er eine Rolle bei den Gesprächen zwischen Putin und Poroschenko gespielt hat, blieb offen. Jedenfalls bekam Putin aus dem Mund der Kanzlerin die Formel zu hören, auf die man sich zuletzt am G7-Gipfel geeinigt hat und die dem Kremlchef bereits von Cameron serviert worden war: Es gibt seitens des Westens Verhandlungsbereitschaft, sollte Moskau aber in wichtigen Punkten nicht einlenken - also den neuen ukrainischen Staatschef Poroschenko nicht anerkennen, die Destabilisierung der Ukraine weiter betreiben und die Truppen nicht völlig von der Grenze zur Ukraine abziehen -, dann sind weitere Sanktionen gegen Russland fällig. Moskau fordert ein Ende des ukrainischen Militäreinsatzes im Osten und eine Einbeziehung der russischen Separatisten in die Verhandlungen.

US-Präsident Barack Obama, der zuletzt innenpolitisch stark unter Druck geraten ist und dem von republikanischer Seite eine zu schwammige und nachgiebige außenpolitische Linie vorgeworfen wird, ging Putin zunächst aus dem Weg und hielt eine flammende Rede vor Veteranen. Die Soldaten hätten 1944 Demokratie und Freiheit verteidigt, "dieser Anspruch steht auf diesem Strand in Blut geschrieben", so Obama. Der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg habe "die Sicherheit und das Wohlbefinden der Nachwelt gestaltet". Bei der späteren Aufnahme des "Familienfotos" aller Staats- und Regierungschefs vermieden Obama und Putin jeden Kontakt. Ein kurzes bilaterales Gespräch zwischen den beiden habe es dennoch gegeben, versichern das französische und US-Präsidialamt.

Transatlantische Risse

Feierliches Gedenken an die alte Waffenbrüderschaft konnte nicht verdecken, dass derzeit auch unter den westlichen Verbündeten nicht alles zum Besten bestellt ist. Seitdem Obama im Fall Syrien ein militärisches Eingreifen zwar angekündigt, dann aber nicht umgesetzt hat, ist das Vertrauen Frankreichs in die Fähigkeit der USA, internationale Krisen zu lösen, beschränkt. Auf der anderen Seite üben die USA Kritik am Entschluss Frankreichs, zwei Hubschrauberträger der "Mistral-Klasse" an Russland zu verkaufen. Zu allem Überdruss ließ Obama Hollande in der Frage der Strafzahlungen für die französische Großbank BNP Paribas abblitzen. Die US-Behörden haben der Bank angeblich eine Pönale in Höhe von 10 Milliarden Euro aufgebrummt, weil das Institut amerikanische Sanktionen gegen Länder wie den Iran, Syrien oder den Sudan mit Geldüberweisungen verletzt haben soll. Die Höhe der Strafe, die von Frankreich als "überzogen" zurückgewiesen wird, würde die Rückstellungen der Bank um ein Vielfaches übersteigen.

Frankreichs Außenminister Laurent Fabius und Hollande versuchten Obama bei einem Abendessen davon zu überzeugen, sich für die französische Bank einzusetzen - umsonst. Fabius droht jetzt ganz offen damit, das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP platzen zu lassen. Doch die US-Behörden wollen mit aller Härte durchgreifen - das verheißt auch für die Deutsche Bank nichts Gutes, die mit einer Strafe von mindestens 300 Millionen Euro rechnen muss.

Davor hatte Obama gegenüber dem britischen Premier David Cameron gemeint, er hoffe auf einen Verbleib Großbritanniens in der EU. "Es ist schwer vorstellbar, dass dieses Projekt ohne Großbritannien gut läuft, und es ist kaum vorteilhaft für Großbritannien, ausgeschlossen zu sein", so der US-Präsident. Cameron, der sich in London mit starken EU-kritischen Kräften konfrontiert sieht, soll mit einem Austritt aus der EU gedroht haben, sollte der Luxemburger Ex-Premier Jean-Claude Juncker tatsächlich EU-Kommissionspräsident werden.