Heute stimmen die Briten über einen Austritt aus der EU ab.|Viele Wähler sind bis zuletzt ratlos. Bitteren Streit gab es auch noch am Tag vor dem Referendum.
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London. Die Brexit-Gegner ziehen alle Register: Die Weltkriegs-Ikone Winston Churchill blickt in London grimmig von den Plakaten - "Brits don’t quit", also Briten ziehen nicht den Schwanz ein, mahnt der Held zahlreicher Feldzüge, der den Wählern jetzt in seiner Funktion als "Gründer der EU" präsentiert wird. In den Pubs setzt man bis zuletzt auf Wissens-Transfer: Bierdeckel werden zu einem Ratespiel umfunktioniert: "Wie viel zahlt das UK wöchentlich an die EU?", "Wer kontrolliert unsere Grenzen? Das UK oder die EU?", wird da etwa gefragt. Ansonsten ist im Londoner Straßenbild kaum zu erkennen, dass heute die Entscheidung der Entscheidungen fällt. Vor dem Parlament haben Trauernde Blumen im Gedenken an die vor einer Woche ermordete Labour-Abgeordnete Jo Cox niedergelegt. Die Stätte wird fast ausschließlich von Touristen umlagert.
Showdown als "Boxkampf"
Gegner und Befürworter des Brexit werfen einander bis zur letzten Sekunde Desinformation und Angstmache vor. 36 Stunden vor Öffnung der Wahllokale kam es im Londoner Wembley-Stadion noch einmal zum Showdown. Zwei Teams zu je drei Personen traten gegeneinander an, das eine wurde vom Chef der Brexit-Kampagne, dem Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson, angeführt. Das andere vom amtierenden Labour-Stadtchef Sadiq Khan.
Tausende Zuseher klatschen und johlten. "Die EU ist ein Failed State", hieß es da, "wir wollen weiter die Möglichkeit haben, unsere Regierung zu feuern und nicht aus Brüssel regiert werden." Nein, die EU sei das "größte Friedensprojekt", das es je gegeben habe, kontert die Gegenseite. Die EU vernichtet Jobs - nein, sie schafft Jobs. Die EU sorgt dafür, dass Terroristen ins Land kommen. Nein, ganz im Gegenteil: Wirksame Terrorbekämpfung ist nur möglich, wenn die Staaten der EU zusammenarbeiten.
Ob jene Wähler, die bis jetzt unentschlossen waren, durch den als "Boxkampf" inszenierten Showdown Klarheit erlangt haben, ist zu bezweifeln. Eine junge Studentin verfolgt die Debatte vor dem Fernseher und kratzt sich den Kopf: "Schwer, aus der ganzen Sache schlau zu werden", sagt sie. Klar ist nur, dass die unterschiedlichen Meinungen quer durch alle Lager und Interessensgruppen gehen. Und die gefürchteten britischen Tabloids gießen Öl ins Feuer: "Lasst uns rein, bevor ihr für den Austritt stimmt - Illegale stürmen Fährhafen in Richtung UK", titelt etwa die "Sun". In der U-Bahnzeitung "Metro" wenden sich Premier David Cameron und sein Widersacher Boris Johnson in langen Briefen an die Wähler.
Martin unterrichtet an der Universität von Loughborough in den Midlands, er wird heute "mit Sicherheit" zur Urne schreiten. "Es sind aufregende Zeiten", sagt er, lässt aber gegenüber der "Wiener Zeitung" keinen Zweifel daran, dass er gegen den Brexit stimmen wird. Martin hat vor allem Angst, dass im Fall eines Brexit wichtige Forschungs-Fonds nicht mehr so einfach anzuzapfen sein werden. "Es gibt zwar bilaterale Abkommen, aber unser Mitspracherecht würde abnehmen. Das ist ein Thema, weil das UK im Forschungsbereich in großem Maß auf EU-Mittel angewiesen ist. Dazu kommt, dass die Wissenschafter aus der EU, die im UK arbeiten - das sind 15 Prozent -, mit Sicherheit in der einen oder anderen Form betroffen wären. Die Kooperation mit anderen EU-Unis wäre sicher negativ von einem Brexit beeinflusst."
Bernhard hingegen ist prototypisch für jene Briten, die heute Ja zum Brexit sagen. Der Pensionist lehnt an einer Mauer unweit der Waterloo-Bridge und hat viel Zeit. "Ich werde so abstimmen, wie ich schon 1975 zur gleichen Frage abgestimmt habe", sagt er. "Seit viereinhalb Jahren verhandeln sie ein Freihandelsabkommen mit den USA, geschafft haben sie es bis heute nicht." Auf das Ergebnis des Referendums will Bernhard nicht wetten. Ihm macht allerdings Sorgen, dass es sieben Millionen registrierte Wähler gäbe, deren Identität nicht feststellbar sei. "Das riecht nach Schiebung", sagt er.
"Wir sind stolze Briten"
Spannend wird das Referendum jedenfalls. Wiewohl die internationalen Börsen, viele Kommentatoren und alle britischen Wettbüros auch am Mittwoch noch mit einem Sieg des Pro-EU-Camps rechneten, ist den Meinungsumfragen zufolge der Ausgang der Abstimmung völlig offen. Die Umfragen meldeten auch gestern ein Patt zwischen Gegnern und Befürwortern. Mit letzten eindringlichen Appellen hatten am Mittwoch deshalb noch einmal beide Seiten versucht, die letzten Unentschlossenen für sich zu gewinnen. Premier David Cameron, der die Pro-EU-Kampagne anführt, forderte seine Landsleute auf, "die beste aller Welten", also britische EU-Mitgliedschaft mit Sonderechten für die Insel, zu wählen. "Wir sind nicht im Euro, wir sind nicht zu immer größerer Integration verpflichtet, wir sind stolze Briten. Aber wir erreichen mehr, wenn wir in Organisationen wie der EU bleiben, um für britische Interessen und Werte zu kämpfen", so der Tory-Politiker.
Auf der Gegenseite erklärte Nigel Farage, der Vorsitzende der Anti-EU-Partei Ukip, die EU sei "ein katastrophales, gescheitertes Projekt". Es sei höchste Zeit, Großbritannien neue Unabhängigkeit zu verschaffen. Der konservative Ex-Bürgermeister Boris Johnson kündigte den Wählern für heute bereits "unseren Unabhängigkeitstag" an.
Im Fall eines Brexit wird mit schweren Turbulenzen an den Märkten und politischem Chaos nicht nur in London gerechnet. In einem Offenen Brief an die Tageszeitung "Times" sprachen sich deshalb zuletzt noch einmal 1280 Geschäftsleute für Verbleib in der EU aus. Wenn Großbritannien aus der EU austrete, hieß es in diesem Appell, bedeute das "Ungewissheit für unsere Firmen, weniger Handel mit Europa und weniger Jobs". Auch Cameron warnte vor einer Entscheidung, die das Land teuer zu stehen kommen könne: "Wenn wir für Ausstieg stimmen, dann sind wir draußen. Das ist eine unumkehrbare Entscheidung. Wir lassen Europa für immer hinter uns." Der frühere Tory-Premier Sir John Major nannte die Brexit-Befürworter "die Totengräber unseres Wohlstands".
"Totengräber des Wohlstands"
Camerons Justizminister Michael Gove, zusammen mit Johnson und Farage Hauptsprecher der Brexit-Seite, können die Warnungen seiner Parteigenossen nicht abschrecken. Er verglich Ökonomen und Nobelpreisträger, die den Verbleib in der EU empfohlen hatten, mit vom NS-Regime bezahlten deutschen Wissenschaftern, die seinerzeit Maßnahmen gegen Albert Einstein gefordert hatten. Gove sei wohl "ausgerastet", meinte Cameron daraufhin lapidar.
Schottland erwägt sogar, eigene Wege zu gehen, sollte es zum Austritt Großbritanniens aus der EU kommen. In dem Fall würde man einen Beitritt zur Eurozone erwägen, meinte Regierungschefin Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der linksliberalen Schottischen Nationalpartei (SNP). Im Augenblick sei dies nicht Ziel der SNP und ihrer Regierung, sagte Sturgeon. Aber im Falle eines Brexits sei es eines der Szenarien, die man ins Auge fassen müsse. Sturgeon hat bereits durchblicken lassen, dass ein neues schottisches Unabhängigkeits-Referendum "wahrscheinlicher" wäre, wenn Großbritannien für den Austritt, Schottland aber für den Verbleib in der EU stimmen würde.
Neuen Rummel gab es am Mittwoch auch um Königin Elizabeth II. Londons "Daily Telegraph" berichtete unter Berufung auf einen Biografen der Royals, die Queen habe vor einigen Monaten einmal Dinner-Gäste aufgefordert, ihr "drei gute Gründe dafür zu nennen, dass wir in der EU bleiben sollen". In Wirklichkeit, korrigierte Robert Lacey, der zitierte Biograf, nun, habe die Königin damit nur eine Diskussion in der Tafelrunde anregen wollen. Es bedeute nicht, dass die Monarchin für einen britischen Austritt aus der Europäischen Union eintrete. Das Ergebnis der Abstimmung wird für Freitagmorgen erwartet. Stimmberechtigt sind 46,5 Millionen Briten.