Was Frauen in die Wohnungslosigkeit bringt und wieder heraus führt. Die Sexarbeiterin Chantal erzählt aus ihrem Leben.
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Ich hatte einen Verdienst von 6.000 Euro netto, habe dann aber durch meine Geschlechtsangleichung 2020 mit meiner Vermieterin ein großes Problem bekommen. ‚Ich passe nicht ins Hausbild‘, das war so die Meinung von ihr. Ich hatte dann vier, fünf Monate Zeit, eine neue Wohnung zu finden. Weil ich nichts gefunden habe, habe ich mir ein Appartement genommen, dafür 2.000 Euro im Monat bezahlt. Ich dachte, ich finde noch irgendwie eine Wohnung. Wenn ich vorab meinen Einkommensnachweis geschickt habe, war es noch o.k. Wenn ich die Wohnung besichtigen gekommen bin, aber nicht mehr. Es ist schwer am Wohnungsmarkt. Aber für Menschen, die etwas anders sind, ist es noch schwerer, etwas zu bekommen.
Chantal ist keine biologische Frau, sie hat Tätowierungen, die hatte sie aber auch schon bei der Vermietung ihrer Wohnung gehabt, erzählt sie im Haus Miriam, einer Einrichtung der Caritas, wo Frauen und Flinta*-Personen in akuten Notlagen einen geschützten Raum und professionelle Unterstützung für einen Neuanfang finden. Flinta* umfasst übrigens Frauen, Lesben, intersexuelle und nicht-binäre Menschen, Trans- und Agender. Sofern sie sich als Frauen definieren, sind sie im Haus willkommen.
Wohnungslosigkeit belastet Chantal mehr als Sexarbeit
Zu Beginn des Gesprächs mit der "Wiener Zeitung" umschreibt sie ihre Arbeit mit neun Jahren in der Selbständigkeit. Kaum drei Minuten später sagt sie offen, dass sie in einem Club hinter der Bar, aber auch als Sexarbeiterin tätig war. Da wurde sie Chantal genannt. Die Arbeit aber habe sie nicht belastet, im Gegenteil.
Ich mache meinen Job wirklich gern. Ich mags, wenn ich mich schön anziehe, schminke, meine Stimme etwas verändere. Der Akt selbst dauert ja nur zehn Minuten, der Rest ist Reden. Ich kommuniziere viel, bin gerne unter Menschen, das macht mir Spaß. Ich war gerne im Club, das stört mich überhaupt nicht. Dort habe ich nie das Problem gehabt, dass ich anders war. Im Gegenteil - da ist es ein Vorteil, dass ich heraussteche, unter 20 Frauen die Größte bin. Ich habe ja nicht auf der Straße gearbeitet. Diese Frauen sind wirklich psychisch belastet.
Die Sexarbeit sei nicht der Grund gewesen, warum ihr Mietvertrag nicht verlängert wurde. Davon habe niemand im Wohnhaus etwas gewusst. Sie habe sich erst im Club umgezogen und geschminkt. Zu Hause zu arbeiten, hätte sie nie gewollt. "Es wäre auch nicht mehr mein privates Zuhause gewesen, wenn ich da das Clubleben hineingelassen hätte. Das war nie eine Option für mich." Im Moment kann Chantal weder dieser noch einer anderen Arbeit nachgehen. Die sechs Monate erfolglose Wohnungssuche haben zu einer Angststörung geführt, erklärt sie.
Dieser Druck, die extremen Kosten, trotzdem aber bald kein Dach über dem Kopf zu haben. Dieses Suchen ist wie eines nach der Nadel im Heuhaufen. Diese Erniedrigungen, die mich noch weiter runterziehen: Shit, ich bekomme nichts. Es liegt nicht am Job, denn wenn sie meine Papiere sehen, passt noch alles. Wenn sie mich dann sehen, nicht mehr. Es ist ja nicht veränderbar. Ich bleibe so, ich kann das nicht ändern. Ich habe es doch verdient, auch so eine Wohnung zu finden. Ich habe keine Mietschulden, auch sonst keine Schulden. Dabei hat die Geschlechtsanpassung - zweimal Brust, einmal Intimbereich - in Thailand 45.000 Euro gekostet. Ich habe einen einwandfreien Leumund, und trotzdem bin ich in dieser Situation, das hat mich einfach schockiert. Ich habe mich immer wieder im Kreis gedreht. Da hat sich diese Angst eingeschlichen. Ich bin dann weit reingerutscht mit meiner Psyche, das ging dann nicht mehr.
Es klingt beinahe harmlos, als Chantal ihre Schritte in die Wohnungslosigkeit erzählt. Sie musste mit der Sexarbeit aufhören und aus dem ohnehin nur auf Zeit an sie vermieteten Appartement ausziehen. Über das P7, einer Erstanlaufstelle für wohnungslose Menschen, die sie im Internet gefunden hatte, kam sie zu ihrem Zimmer im Haus Miriam. Aus 120 Quadratmetern wurden 12,5, in die sie mit zwei Koffern einzog.
Wenn du die Schlüssel zurückgibst, keine Meldeadresse mehr hast. Da habe ich Angst bekommen, so wie damals, als sie uns meine Tochter nach ihrer Geburt noch im Krankenhaus abgenommen haben. Dieses Gefühl, nichts mehr zu haben, das ist eine unglaubliche Last. Da kommen mir wieder die Tränen. Mein Gewand, das Bild meiner Tochter, mein ganzes Leben passt in zwei Koffer. So ist das jetzt eben, habe ich mir gedacht.
Chantal knüllt das Taschentuch mit den Tränen in ihrer Hand zusammen. Trocken erzählt sie, dass ihr ganz offiziell der Status "arbeitsunfähig" zugesprochen wurde. Aktuell bezieht sie Mindestsicherung. "Ich hoffe, dass das nur für kurze Zeit so ist", sagt die 29-Jährige allerdings auch. Sie sei gerade bei der Medikamenteneinstellung, um die psychische Erkrankung wieder in den Griff zu bekommen. Im Haus Miriam müsse sie aktuell mal nicht kämpfen.
Hier kann ich zur Ruhe kommen, hier ist mir diese Last erst einmal abgenommen worden. Hier sind Menschen, die ihr Leben neu gestalten wollen. Hier gibt es keine Diskriminierung. Hier bin ich total richtig, das haben sie mir schon beim P7 gesagt.
Versteckte Wohnungslosigkeit von Frauen
Ins Haus Miriam kommen Frauen häufig nach Trennungen oder Scheidungen. "Wenn die Wohnung auf den Partner gemeldet ist, kommt es vor, dass die Frau auf der Straße landet", erklärt Anita Moser, Leiterin des Hauses. Junge Frauen kämen auch bei Konflikten und Gewalt in der Familie. Voraussetzung sei nur ein aufrechter Aufenthaltstitel, für Asylwerberinnen gebe es nur zwei, vermutlich dauerhaft, jedenfalls aber langfristig besetzte Plätze. "Der Großteil sind also Österreicherinnen und ihnen vom Aufenthaltstitel her gleichgestellte Frauen."
Der Weg zu einen Platz im Haus führt über einen Antrag bei der Wohnungshilfe des Fonds Soziales Wien (FSW). "Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind eigentlich die selben wie bei Männern", heißt es von Seiten des FSW im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". In den Befragungen mit Betroffenen würden Arbeitslosigkeit, ein Beziehungsende, Erkrankungen oder auch ein leichtsinniger Umgang mit Geld genannt.
Die Dunkelziffer wohnungsloser Frauen sei vermutlich viel höher als bei Männern: "Frauen gehen häufiger Zweckbeziehungen ein oder schlafen am Sofa von Bekannten und begeben sich so in Abhängigkeiten." Obdachlosigkeit von Männern sei öffentlich viel sichtbarer. Frauen achten dagegen oft mehr auf ein gepflegtes Äußeres und Hygiene. Viele würden lange versuchen, den Anschein von Normalität zu wahren, sodass man es ihnen gar nicht anmerke, dass sie wohnungs- oder obdachlos sind. "Es kommt vor, dass Frauen lange Zeit nur die Dusche im Tageszentrum nutzen, dann eines Tages dann doch mit gepacktem Koffer ankommen. Da spielt vermutlich auch Scham eine große Rolle."
Rund 12.500 Menschen ohne Obdach oder Wohnung melden sich bei den Einrichtungen des FSW jährlich - 35 Prozent davon sind Frauen. Das Angebot reicht von Nachtquartieren, die man auch einmalig nutzen kann, über Tageszentren, wo man auch duschen kann, und Gesundheitszentren bis hin zu Übergangswohnungen oder mobiler Wohnbetreuung, wo Männer und Frauen beim Neustart in einer eigenen Wohnung unterstützt werden. Knappe 110 Millionen Euro an öffentlichen Mitteln kostete die Wohnungslosenhilfe in der Stadt im vergangenen Jahr.
Unterstützung beim Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben
Wird der Antrag beim FSW bewilligt, werde den Personen eine Einrichtung wie das Haus Miriam zugewiesen, erklärt Moser. Aktuell ist allerdings gerade kein Platz frei, es gibt eine Warteliste. Insgesamt finden rund 30 Frauen und Flinta*-Personen ab 18 Jahren in diesem Haus "mehr als nur ein Bett", heißt es auf der Homepage.
Es ist ein Frauenschutzraum, wo die Bewohnerinnen von einem ausschließlich weiblichen Team aus Sozialarbeiterinnen und Sozialbetreuerinnen bei ihren Lösungswegen unterstützt werden. Kinder wohnen nicht fix im Haus, dürfen aber über das Wochenende auch mal zu Besuch kommen. Fast alle Frauen hätten Kinder, diese leben allerdings in Wohngemeinschaften der Kinder- und Jugendhilfe, bei Pflegeeltern, der Oma oder auch beim Ex-Partner, erläutert die Leiterin des Hauses Miriam.
Die Sozialbetreuerinnen, von denen rund um die Uhr welche im Haus sind, unterstützen die Bewohnerinnen beim Alltag. Wie schaffe ich es, mein Zimmer in Ordnung zu halten? Wo kann ich wie etwa in einem Sozialmarkt günstig einkaufen gehen? Was kann ich Leistbares mit den Kindern unternehmen? Wie kann ich mir eine passende Stelle suchen? Wie schreibe ich einen Lebenslauf? Was sage ich bei Bewerbungsgesprächen? Es sind jeweils unterschiedliche Fragenstellungen, die Moser unter "psychosoziale Stabilisierung" subsumiert. "Es gibt jeweils gemeinsame Zielvereinbarungen. Bei einer Suchterkrankung kann das zum Beispiel sein, Termine einzuhalten", erklärt Moser.
Die Frauen leben in Einzel- und Doppelzimmern, wie in einer WG teilen sie sich Küchen, Bad und WC. "Abends gibt es spendenfinanziertes Essen, das Freiwillige, auch ehemalige Bewohnerinnen, manchmal auch Prominente kochen." Auch aktuelle Bewohnerinnen können Kochdienste übernehmen, wie für Putzdienste und in der Portierloge erhalten sie dafür therapeutisches Taschengeld. "Da kann ich mir zum Beispiel beweisen, dass ich pünktlich und verlässlich an einem Arbeitsplatz erscheinen kann", sagt Moser. Die Bewohnerinnen erhalten Wohnbeihilfe, bezahlen auch einen Wohnkostenbeitrag: "Es geht dabei auch ums Wohnen üben."
Einmal in der Woche komme eine Psychologin des Frauengesundheitszentrums Fem ins Haus für vertrauliche Gespräche, auch Yoga-Stunden. Ebenfalls einmal in der Woche sei zudem eine Psychiaterin zu Gast. Der Großteil der Bewohnerinnen habe eine psychische Erkrankung, das Spektrum reicht von Borderline über Suchterkrankungen bis hin zu Depressionen. Es sei jedenfalls "ein niederschwelliges Angebot für Erstgespräche", wie Chantal auch werden die Frauen dann an Fachstellen weiterverwiesen.
Die Sozialarbeiterinnen unterstützen bei Anträgen etwa der Mindestsicherung, beim Dokumente besorgen und Behördenwegen, falls nötig auch zur Schuldnerberatung, zu Gericht, zur Kinder- und Jugendhilfe - oder auf dem Weg zu einer eigenen Wohnung. Meist sind es Kleinstwohnungen von der Gemeinde mit 20, 25, 28 Quadratmetern, eigene vier Wände, die Frauen auch von einer Mindestsicherung oder einer Kleinstpension finanzieren können. Auch NGOs mieten Häuser an, seien Partner des FSW beim Wiedereinstieg mit mobil betreutem Wohnen.
Chantal sei übrigens nicht die Einzige, die der Sexarbeit nachging, sagt Moser auf Nachfrage: "Das ist die selbstbestimmte Entscheidung jeder einzelnen Frau, wir begegnen dem wertfrei. An oberster Stelle steht, was wollen die Frauen selbst, wir geben da keine Richtung vor." Seit heurigem Jänner könnten Frauen auch dauerhaft im Wohnhaus bleiben, "bis sie sterben, es gibt keinen Zwang mehr auszuziehen", sagt Moser. Es sei ein Angebot für jene, die neue Freundschaften behalten wollen: "Dass alle im gleichen Boot sitzen, ist für viele sehr heilsam." Der Drang der meisten Frauen sei es aber nach wie vor, wieder weiterzukommen.
In sechs Monaten "sollte es mir wieder gutgehen"
Weiterkommen will auch Chantal, ihr erstes Ziel war das Zimmer im Haus Miriam. Das nächste war es, mit Schmetterlingen überall an den Wänden, es zu dem ihren zu machen. Sie hält es sehr sauber.
Ordnung ist mir total wichtig. Das war schon als Kind so. Ordnung muss sein, dann geht es mir besser. Das habe ich weiterhin behalten, das wird auch so bleiben. Es bleibt dir ja nichts anderes übrig hier, jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen. Ich brauche meine privaten vier Wände wirklich. Wo ich keinen Stress habe, wo ich gerne nach Hause komme, alleine baden, essen, Fernsehen gucken und einschlafen kann. Dinge, die du hier nicht hast. Ich ziehe aber nur aus, wenn ich einen unbefristeten Mietvertrag erhalte, damit ich das nicht in drei Jahren wieder erlebe. Das wird ja mit der Zeit nicht besser. Ich fürchte, das wird vielleicht noch schwieriger.
Chantal spricht von sechs Monaten, in denen sie gesund werden will, "dann sollte es mir wieder gut gehen". Sie spricht zwar von einer Zusatzausbildung, einer Arbeit im sozialen Bereich, "damit Menschen wie ich schneller zu einer Wohnung kommen". Sie überlegt, ob Arbeiten am Abend im Club und die Ausbildung am Tag nebenbei möglich sein könnte. Entschieden hat sie das aber noch nicht.
Es ist gar nicht einfach für mich, etwas Neues zu finden. Wenn ich mich an eine Supermarktkassa setze, würden 90 Prozent der Leute vermutlich nur schauen. Ich werde wieder in die Selbständigkeit zurückgehen. Ich könnte jederzeit wieder anfangen, wäre sofort willkommen. In Clubs gibt es null Diskriminierung. Ich weiß, wie es läuft, ich habe meine Finanzen dann wieder im Griff. Man kann in dem Bereich sehr viel verdienen, wirklich viel. Ich brauche auch Geld, weil ich körperlich noch nicht da bin, wo ich sein wollte. Meine Stimme, meine Nase, ich möchte die Männlichkeit aus dem Gesicht rausoperieren lassen. Das wollte ich eigentlich schon vorher, dann kam Corona. Und jetzt die Sache mit der Wohnung.
Einen Kampf gegen die ehemalige Vermieterin will sie genauso wenig führen, wie gegen jene, die ihr keinen neuen Mietvertrag ermöglichen. Sandra Konstatzky, Leiterin der Gleichbehandlungsanwaltschaft, weist darauf hin, dass das Gleichbehandlungsgesetz aufgrund jeder Geschlechtsidentität Schutz vor Diskriminierung bietet: Trans- und nicht-binären Personen genauso wie Frauen und Männern. Die Anwältinnen hätten auch ein Auskunftsrecht. "Alleine das Nachfragen kann in der Praxis dazu führen, dass es doch Lösungen gibt", sagt sie. Jedenfalls müsse nicht jede Einzelperson alleine für sich kämpfen. Chantal möchte das im Moment trotzdem nicht.
Ein juristischer Kampf bringt mir nichts, der kostet nur Kraft. Jetzt ist es die Wohnung. Und danach kommt meine Tochter. Das Jugendamt meint, es wäre besser, ich bekomme erst mein Leben in den Griff. Ich stelle das im Moment hinten an. Das funktioniert für mich. Ich will mich davon jetzt nicht runterreißen lassen. Das musste ich lernen. Aber dann möchte ich anfangen, sie zu besuchen. Ich glaube eh nicht, dass ich sie von jetzt auf gleich einmal die Woche sehe. Sondern auch da werde ich Schritt für Schritt den Weg gehen. Mal sehen.
Diversität sei für sie der wichtigste Begriff, sagt Chantal beim abschließenden Rundgang durchs Haus vor einem Plakat. "Das sollte auch für die Gesellschaft als Ganzes so sein, ist es aber nicht. Ich habe aber die Hoffnung, dass es mal so sein wird", sagt sie auch. Warum umgibt sie sich eigentlich mit den vielen Schmetterlingen? "Sie erinnern mich irgendwie an Freiheit. Wenn ich im Bett liege, sehe ich sie und komme ins Träumen."