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Damit alles in der Familie bleibt

Von Thomas Müller

Politik
Nicht jeder Brauch ist islamisch: Verwandtschaftsehen etwa werden im Islam auch kritisiert.
© © © Ed Kashi/CORBIS

Das Risiko für Erbkrankheiten steige dadurch erheblich, warnen Mediziner.


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Wien. Yasemin Yadigaroglu ist bei den meisten Moscheevereinen in ihrer Heimatstadt Duisburg nicht gerade wohlgelitten. Die junge Sozialwissenschafterin mit türkischen Wurzeln wurde schon oft als "Nestbeschmutzerin" beschimpft, denn sie hat sich dem Thema der Verwandtenehen unter Migranten verschrieben.

2006 war ihr bei einem Kindergartenpraktikum die hohe Zahl an Kindern mit Hörproblemen aufgefallen, meist aus Migrantenfamilien. Nach weiteren Recherchen war für sie klar, dass das dieses gehäufte Auftreten von Erbkrankheiten mit den sogenannten konsanguinen Ehen zusammenhängt, wenn also die Eltern miteinander verwandt sind. In der Regel sind es der Cousin oder die Cousine ersten Grades, die in vielen türkischen und arabischen Migrantenfamilien als bevorzugte Ehepartner gelten. Um die Communities über die Folgen dieser Praxis aufzuklären, hält Yadigaroglu Vorträge, wo sie nur kann, und hat in Deutschland auch bundesweites Medienecho erreicht.

In Österreich waren es Mediziner wie der Gynäkologe Martin Langer vom Wiener AKH, die vor wenigen Jahren das Thema aufgegriffen haben. "Das Problem ist durch die Kinder, die wir betreuen, auf uns zugekommen, weil es sehr schwierige und untypische Diagnosen sind", erinnert sich Langer. "Die eigentlich Problematik ist, wenn Cousin und Cousine ersten Grades über viele Generationen hinweg heiraten. Das Erbmaterial verliert an Buntheit. Das bedeutet auch, dass genetische Anlagen für bestimmte Erkrankungen öfter von beiden Elternteilen weitergeben werden."

Bei einem Viertel der Kinder brechen die Erkrankungen auch tatsächlich aus. Langer schätzt, dass von insgesamt rund 18.000 Neugeborenen in Wien jährlich 30 bis 50 mit Erbkrankheiten durch Verwandtenehen auf die Welt kommen: "Ich gehe dabei von einer ähnlichen Konsanguinitätsrate wie in der Türkei aus, etwa 25 Prozent. Dort haben Wissenschafter das Problem schon lange aufgegriffen und es gibt Studien mit soliden Zahlen dazu."

Mit Ehen zwischen Cousin und Cousine hat auch Gül Ayse Basari regelmäßig zu tun. Die von ihr geleitet Beratungsstelle "Orient Express" hilft Frauen, die von Gewalt in der Ehe oder von Zwangsehen betroffen sind. "Das grundsätzliche Problem ist die Zwangsheirat, denn ein hoher Anteil davon sind auch Verwandtenehen", sagt Basari. Warum diese Tradition vor allem in konservativen Migrantenfamilien so beliebt ist, habe mehrere Gründe: "Das Vermögen wird so in der Familien gehalten und man geht davon aus, dass verwandte Eheleute sich besser verstehen als familienfremde. Eine Rolle spielt auch die Kontrolle über die jungen Frauen, die in einer Verwandtenehe eher möglich ist."

Ziel dieser Familien sei es, die Ehe unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Den Töchtern, die trotzdem ausbrechen wollen, drohe die Verstoßung. Was die zweite Generation betrifft, ist Basari optimistisch: "Sie werden das nicht mehr so weiterführen. Sehr viele junge Frauen sagen: Für mich ist mein Cousin wie ein Bruder, ich kann ihn nicht heiraten." Gezielt gegen Verwandtenehen auftreten will Basari aber nicht: "Wir arbeiten nicht dagegen, solange es freiwillige Ehen sind."

Mit Vorschriften will auch Martin Langer nicht an das Problem herangehen: "Ein belehrender oder abwertender Unterton bei der Beratung ist unangemessen und sollte unbedingt vermieden werden." Die einzig wirksame Strategie bestehe in der Förderung der Bildung und der Berufstätigkeit der Frauen. "Je besser die Frauen ausgebildet sind, desto weniger konsanguine Ehen kommen vor." Gezielte Initiativen zur Aufklärung gäbe es in Österreich noch nicht.

Wurzeln in der Antike

Die Mehrheitsbevölkerung reagiert oft mit Unverständnis und Empörung auf das Phänomen. Die Boulevardmedien sind schnell mit dem Schlagwort "Inzest-Baby" zur Hand, auch wenn es sich bei den allermeisten Verwandtenehen gar nicht um den gesetzlich verbotenen Inzest handelt, also sexuellen Kontakt zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern oder zu Nichten und Neffen.

Auch der Zusammenhang zwischen Islam und Konsanguinität ist auf den ersten Blick schnell gemacht, aber greift zu kurz. "Der Islam hat die Verwandtenehe sicher nicht erfunden. Sie beruht vielmehr auf einer in den antiken Zivilisationen wurzelnden sozialen Ethik, die in das islamische Brauchtum eingeflossen ist", sagt die Ethnologin Monika Schreiber, die zu dem Thema Konsanguinität ihre Dissertation verfasst hat. Schließlich gäbe es auch bei den religiösen Minderheiten im Nahen Osten wie den Drusen, den Juden und den Christen ebenfalls Konsanguinitätsraten zwischen zehn und dreißig Prozent.

"Konsanguinität ist eine soziale Norm, vielleicht vergleichbar mit der Verschleierung der Frauen, die ja auch kein Dogma des Koran ist. Dieser beinhaltet sogar teilweise umfangreiche Kataloge von verbotenen Verwandten", betont die Wissenschafterin und verweist auf eine Reihe von Völkern des Nahen Ostens, die in vor-islamischer Zeit nicht nur die Cousinenehe, sondern auch die Ehe zwischen Geschwistern und zwischen Eltern und Kindern praktiziert haben.

Das Heiraten der Cousine ersten Grades blieb auch durch den Islam erlaubt und erfuhr dadurch eine Aufwertung. "Insbesondere die Sonderform der Parallel-Ehe zwischen den Kindern zweier Brüder, die bint-al-’amm-Ehe, wurde zur islamischen Heirat schlechthin", erklärt Monika Schreiber. Was das Zurückdrängen dieser Traditionen angeht, nennt sie ebenfalls den Kampf gegen die Zwangsehe als Ansatz, aber auch die Religion: "In der islamischen Traditionsliteratur gibt auch sehr skeptische Überlieferungen zur Konsanguinität. Anderseits gibt zum Beispiel auch die Eheform des badal, bei der zwei Männer einander ihre Schwestern zur Ehe geben. Im Islam ist sie explizit verboten, aber im Nahen Osten genauso populär wie die Cousinenehe."