Die Lebensrealität vieler Jugendlicher: Gangs, Rauchen, kein Wissen über Uni.
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Wien. Jugendgangs, Kettenrauchen, Moschee: Ihre eigenen Milieus erforschten 12- bis 16-jährige Schüler der Kooperativen Mittelschulen Kinzerplatz (21. Bezirk) und Steinergasse (23. Bezirk). Beim Projekt "Jugendforschungswerkstatt Multikulturelles Wien" machten sie Interviews und Fotoreportagen im Freundeskreis, der Nachbarschaft und in der Familie. Sozialanthropologen haben ihnen sozialwissenschaftliche Methoden beigebracht. Ein teils erschreckendes Bild über die Umgebung, in der die Schüler aufwachsen, trat zutage. Die Ergebnisse wurden beim Juniorforscherkongress an der Uni Wien präsentiert.
Der in Tschetschenien geborene Zaur Khankarkhanov hat sich dem Rauchen fotografisch genähert. Auf die große Anzahl von kettenrauchenden 12- und 13-Jährigen in seinem Umfeld verweist der Nichtraucher gegenüber der "Wiener Zeitung". Einige würden bereits mit zehn Jahren damit anfangen. "Umweltverschmutzung", "Rauchergestank in der Hand" oder "Guter Stoff" heißen einige seiner Motive. Khankarkhanov nützt die Möglichkeit, das Problem außerhalb seines Umfelds zu kommunizieren. "Damit die Uni weiß, was wirklich abgeht." Duygu Aktürk hat sich gefragt, warum Menschen rauchen: "Gründe sind oft Stress zu Hause oder weil sie cool sein wollen." Die 14-Jährige findet: "Man kann auch cool sein, ohne zu rauchen."
Warum Jugendliche gewalttätig werden, beschäftigte Sarah Demjek und Raffaela Gemeinböck. Sie hörten sich in ihrem Umfeld um. Mehr als die Hälfte der Befragten haben Waffen wie Schlagringe, Neun-Millimeter-Waffen, Schlagstöcke, Butterfly-Messer oder Baseballschläger bei sich. Die meisten begingen schon Straftaten wie Vandalismus, Diebstahl, Erpressung oder Freiheitsberaubung. Alle Interviewten haben schon mal jemanden geschlagen.
Es sei sehr leicht für Jugendliche, an Waffen zu kommen, kritisieren beide Schülerinnen. Die meisten Kriminellen sind in großen Gruppen unterwegs, ihre Freunde sind auch kriminell. Durch die Straftaten erhoffen sie sich mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Verständnis äußerte während der Forschung eine ältere Frau: "Na wie soin sie die jungen Leit sonst verteidigen, die Polizei is eh deppat; Wien is ned mehr sicher." Demjek hat auch Gewalt aufgrund der Herkunft beobachtet, oft verbunden mit den Kriegen am Balkan. Sie will damit nichts mehr zu tun haben: "Der Krieg ist Vergangenheit. Wir sind eine neue Generation, mir ist egal, woher wer kommt."
Keine christliche Frau
Das Umfeld muslimischer Jugendlicher untersuchten Dastgir Sheik und Emir Yilmaz. Sie haben Personen jeden Alters in der Moschee interviewt. Die Befragten gaben an, alle islamischen Feiertage zu begehen, keinen Alkohol zu trinken und - überraschend für die Interviewer - sich noch nie in eine christliche Frau verliebt zu haben. Die meisten beten fünf Mal täglich. Auch Sheik und Yilmaz sind gläubig und besuchen regelmäßig die Moschee.
Zwei Welten sind sich beim Projekt begegnet: die Jugendlichen, von denen kaum einer je eine Universität besuchen wird, und die Uni-Lektoren und Professoren, die von den Lebenserfahrungen der KMS-Schüler wenig bis nichts wussten. Sheik hatte vor dem Projekt keinen Kontakt zur Uni. Niemand unter seinen Verwandten hat je studiert. Es war eine gute, spannende Erfahrung für ihn, trotzdem will er später nicht studieren, sondern Maurer werden, um sobald wie möglich Geld zu verdienen. Die Uni würde da zu lange dauern. Auch andere wie Duygu Aktürk teilen diese Meinung. Demjek will in einem Fitnesscenter arbeiten: "Das ist das, was mich interessiert."
"Viele Schüler haben die Universität nicht gekannt", erzählt Projektleiterin und Anthropologin Anna Streissler. "Wenige haben gewusst, dass man Matura machen und dann studieren kann." Bekannt sei der Weg der Lehre und in manchen Fällen die HTL. Sogar das Gebäude der Universität war den Schülern fremd. "Einer glaubte, es sei ein Museum."
Beim Projekt kam es zum Austausch. "Wir haben in Kleingruppen von vier bis sechs Personen gearbeitet und konnten uns so schneller kennenlernen", erzählt Streissler. Mit dem Ergebnis ist sie zufrieden. Die Schüler seien sicherer im Präsentieren geworden. Die Wissenschafter sammelten neue Erkenntnisse in der Forschung mit Jugendlichen. Wissenschafter und Lehrer werden die Erkenntnisse aufarbeiten, damit sie anderen etwa in Form von Unterrichtsmaterialien nützen können. Immerhin Zaur Khankarkhanov will der neuen Welt nicht den Rücken kehren. Nach der Begegnung mit der Universität während des Projekts will er später einmal studieren. "Ich habe gelernt, wie es auf der Uni läuft. Das möchte ich auch einmal machen."