"Vielleicht war's ein Beamter, dessen Gebisssanierung schiefgegangen ist", witzelte ein Berufskollege des Tiroler Zahnarztes. Was er säuerlich kommentierte, war ein bisher noch nie erlebter Eklat im steuerlichen Rechtsmittelverfahren. Im Zuge einer Berufung gegen einen Umsatzsteuerbescheid weigerte sich die Oberinstanz der Tiroler Finanzverwaltung, ein geltendes Steuergesetz zu beachten und zwang schließlich den ratlosen Verwaltungsgerichtshof zu einer Anfrage an den Europäischen Gerichtshof. Ein brisantes Ergebnis zeichnet sich ab.
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Rückblende zum Jahreswechsel 1996/97. Die bis dahin umsatzsteuerpflichtigen Ärzte wurden mit dem Jahreswechsel plötzlich zu umsatzsteuerbefreiten Unternehmern. Das hätten sie eigentlich schon seit unserem EU-Beitritt werden sollen; aber Österreich hatte sich im Beitrittsvertrag eine Fristerstreckung für den Übergang herausverhandelt.
Umsatzsteuerpflichtige Betriebe haben in der Regel auch das Recht auf den Vorsteuerabzug von den Anschaffungskosten der Investitionen und sonstigen Wirtschaftsgüter. Umsatzsteuerbefreite Unternehmer haben dieses Recht nicht (wenn man von einigen Ausnahmen absieht). Die ab Jahreswechsel '97 von der USt entlasteten Ärzte mussten also ab sofort auf das kostbare Vorsteuerrecht verzichten. (Dass sie dafür einen andersgelagerten Ausgleich bekamen, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt).
Den Wechsel von der USt-Pflicht zur USt-Befreiung ver-knüpft das Gesetz allerdings mit einer unangenehmen Prozedur. Der in der USt-Ära beanspruchte Vorsteuerabzug muss beim Übergang zur USt-Freiheit teilweise (nämlich zeitanteilig) berichtigt werden. Für die in den letzten fünf Jahren getätigten Investitionen, für die in den letzten zehn Jahren errichteten betrieblichen Baulichkeiten und für verschiedene andere vorsteuerentlastete Güter muss die Vorsteuer anteilig wieder an den Fiskus zurückgezahlt werden.
Das kann ins Geld gehen, vor allem dann, wenn kurz vor dem Übergang fleißig investiert wurde. Ein Röntgenarzt - als Beispiel aus dem Mediziner-Bereich - der 1996 teure Geräte mit Vorsteuervorteil angeschafft hatte, hätte im Übergangsjahr 4/5 dieser Vorsteuern an den Fiskus zurückzahlen müssen. Ähnliches hätte den anlagenintensiven Zahnärzten passieren können oder den Labormedizinern, den Nuklear-therapeuten, eigentlich allen Medizinern, die nicht bloß mit einem Stethoskop arbeiten.
Sondergesetz als Privileg?
Die Ärztekammer ist eine starke Lobby. Sie setzte ein Privileg durch, für das es bisher nichts Vergleichbares gab: sie überredete Finanzministerium und Gesetzgebung zu einem Sondergesetz, mit dem den Medizinern anlässlich des Systemwechsels die sonst notwendige Vorsteuerberichtigung erlassen wurde. Alle bis Ende 1996 lukrierten Vorsteuerbeträge konnten auf diese Weise trotz Übergang zur USt-Befreiung unangetastet bleiben.
Dass dieses ministerielle Zugeständnis aus EU-Sicht nicht ganz "zimmerrein" war, lässt sich in den Kommentaren der Umsatzsteuerexperten nachlesen. "Der Verzicht auf die Vor-steuerkorrektur dürfte mit den Regeln der EU-Umsatzsteuer-Richtlinie schwer vereinbar sein", schrieb Hans Georg Ruppe in seinem Großkommentar. Und Kolacny-Mayer halten die Begünstigung für eine glatte Wettbewerbsverzerrung: Konnte ein Arzt seine Ordinationseinrichtung noch 1996 erwerben, blieb ihm der Vorsteuerabzug uneinge-schränkt erhalten. Konnte ein anderer Arzt die Einrichtung erst 1997 erwerben, stand ihm kein Vorsteuerabzug zu.
EU-unzulässige Beihilfe?
Der Fall des Tiroler Zahnarztes entzündete sich eigentlich an einer Nebenfrage. Der Steuerprüfer war mit der Versteuerung von Patientenanzahlungen nicht einverstanden, die der Arzt für langfristige kieferorthopädische Behandlungen vereinnahmt hatte. Im Berufungsverfahren warf die Behörde allerdings unerwartet ein anderes Thema auf. Sie ließ vom Finanzamt die zu Ende 1996 eigentlich notwendig gewesenen Vorsteuerberichtigungen ausrechnen und nahm eine "Verböserung" des Verfahrens vor: sie schrieb diese Vorsteuerbeträge dem Zahnarzt zur Nachzahlung vor.
Und das Steuergesetz, gemäß dem eine solche Vorsteuerkorrektur bei Systemwechsel der Ärzte zu entfallen hatte? Unbeachtlich!, meinten die Tiroler Finanzer: die gesetzliche Begünstigung sei in Wahrheit eine verkappte staatliche Beihilfe an die Ärzte, gegenüber der EU-Kommission nicht notifiziert und daher durch die Behörden der Mitgliedstaaten nicht zu vollziehen. Außerdem widerspreche das Privileg der EU-Richtlinie, die beim USt-Systemwechsel eine zwingende Vorsteuerberichtigung vorsehe.
Das war selbst in der Wiener Himmelpfortgasse neu: eine Berufungsbehörde, die sich über Ministerium und Gesetz-gebung selbstbewusst hinwegsetzte! Oder war man im Ministerium an einer Problemklärung etwa gar nicht so uninteressiert? Hätte man nicht durch Klaglosstellung in das Verfahren eingreifen können?
Der Verwaltungsgerichtshof, bei dem die Beschwerde des Tiroler Arztes landete, fand beide Probleme untersuchens-wert: die angeblich unerlaubte staatliche Beihilfe und die mögliche Wettbewerbsverfälschung. *) "Der genannte Vorteil besteht in einem Verzicht auf Steuern und wird daher aus staatlichen Mitteln gewährt. Er verstärkt die Wettbewerbsstellung der begünstigten Unternehmer gegenüber anderen, mit ihnen im Wettbewerb stehenden Unternehmern", heißt es im VwGH-Beschluss. Das Verwaltungsgericht hegt Zweifel an der sachlichen Rechtfertigung der strittigen gesetzlichen Maßnahme. Es hat sich entschlossen, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, ob die für die Ärzte geschaffene Vorsteuerbegünstigung beim Systemwechsel 1996/97 tatsächlich eine unzulässige Beihilfe darstellte.
Die von Experten befürchtete Meinung der EU-Richter könnte eine fiskalische Kettenreaktion auslösen, über die derzeit niemand nachzudenken wagt. Die Stellungnahme aus Luxemburg wird voraussichtlich in zwei Jahren vorliegen. Bis dahin tickt die Uhr.
*) Zl. EU 2003/0003 (2002/14/0130) v. 31. 3. 2003