Jenseits aller moralischen Grundsätze zeigt ein soziologischer Blick, dass Korruption auch ihre positiven Seiten haben kann - vor allem in der öffentlichen Verwaltung.
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Über Korruption lässt sich nicht mit den Grundsätzen der Moral richten. Ein vielsagendes Beispiel hierfür ist Oskar Schindler - bekannt aus dem Film von Steven Spielberg. Schindler war ein hochdekorierter Geheimdienstoffizier der Wehrmacht. Er hat sechs Jahre lang hindurch seine Schützlinge, zum Schluss waren es 1200 Juden, durch Bestechung der KZ-Kommandanten und NSDAP-Funktionäre gerettet. Gibt es demnach eine gute und eine schlechte Korruption? - Nein, Korruption ist kein ästhetischer und auch kein philosophischer Begriff. Und wenn die Letztbegründung gegen Korruption die Moral ist, dann ist die Korruptionsbekämpfung den politischen Turbulenzen ausgeliefert.
Ein anderer Zugang ist der soziologische, und so ist entgegen der bürgerlichen Moral, des proletarischen Selbstbewusstseins und des gesunden Volkszorns festzuhalten, dass die Korruption in der öffentlichen Verwaltung durchaus auch ihre positiven Seiten hat.
Die Beziehungen der Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung basieren auf dem Don-Corleone-Prinzip, wie das Horst Bo-
setzky beschrieb. Der Beamte sichert seine aus vielerlei Hinsicht abhängige und ausgelieferte Existenz ab und erwirbt seinen Einfluss, indem er unentwegt Gefälligkeiten erweist und damit viele verpflichtet. Ganz nach Mario Puzos Roman "Der Pate", wo Don Corleone die Wohltaten so hortet, wie ein Spekulant Aktien.
Don-Corleone-Prinzip
In kontinentalen Ländern (wie Deutschland, Frankreich, Österreich oder Ungarn) sind die dankesbezeigenden Beziehungen sogar ein tragendes Wesensmerkmal der öffentlichen Verwaltung. Sie werden nicht nur für Eigeninteressen eingesetzt, sondern auch im Interesse der arbeitgebenden Institution. Das Don-Corleone-Prinzip ist also auch im Sinne der Effizienz und Effektivität von Nutzen. Nicht schwarze Schafe sind am Werk, sondern das Grundwesen der Bürokratie.
Auch darüber ist nicht moralisch zu richten, denn die Alternative ist das kafkaeske, rigorose Vorschriftshandeln. Das ist zwar frei von Korruption, aber der Einzelne hat keine Chance mehr, die Phalanx der Bürokratie zu durchbrechen. Er bleibt aus dem "Schloss" für immer ausgesperrt. Das individuelle Beziehungssystem macht die entmenschlichte Bürokratie menschlich und lebbar. Von dankesbezeigenden Gefälligkeiten zur Kleinkorruption ist es nur ein kleiner Schritt.
Warum sind die dankesbezeigenden Gefälligkeiten und die Kleinkorruption human? Weil es dadurch für Einzelne sowie für Klein- und Mittelunternehmen möglich wird, ihre Interessen rentabel durchzusetzen, sie sind auf diese angewiesen. In einem modernen bürokratischen Staat kann sich der Großteil der Bevölkerung de jure kaum Geltung verschaffen, er bekommt aber durch Beziehungen und durch Kleinkorruption die Möglichkeit, de facto Gnade zu genießen.
Die Erosion des politischen Establishments wird von Korruption begleitet, aber - und darin hat sich Machiavelli geirrt - sie wird nicht von ihr verursacht. Machtzersetzung entsteht nämlich erst, wenn sich die öffentliche Verwaltung von der politischen Macht abwendet, wenn also die Beamten mit einer besonderen Mentalität dagegen aufbegehren. Diese Mentalität kann man mit dem schönen Ausdruck "Fortwursteln" bezeichnen (auch Inkrementalismus genannt). Das Fortwursteln ist dann vorherrschend, wenn das Personal der öffentlichen Verwaltung seiner Perspektiven verlustig geht. Dann entsteht nämlich eine Art passive Résistance, welche nicht organisiert, sondern individuell (trotzdem allgemein und einheitlich) wirksam wird.
Diese Mentalität federt die hektische und wankelmütige Vorgehensweise der Politik ab, alsbald sie verzweifelt um ihren Machterhalt bemüht ist. Die Institutionen der öffentlichen Verwaltung verlangen ihren Beschäftigten eine ritualisierte und formalisierte Handlungsart ab. Dabei entsteht eine einheitliche Mentalität, welche aber nur zum Schein der politischen Ideologie entspricht, real hat sie das Aufrechterhalten der Institution zum Ziel. Sie handelt einerseits informell der Politik zuwider, andererseits ist sie für Außenstehende uneinsehbar und unverständlich. Der allgemeine passive Widerstand und die individuelle Devianz (= abweichendes Verhalten) gehen also Hand in Hand. Eine Ausprägung der Devianz ist die Korruption.
Kleptokratische Macht
Neue politische Aspiranten verwenden immer den Vorwurf der Korruption, damit beanspruchen sie für sich eine moralische Obrigkeit, wie Donald Trump in seiner Wahlkampagne. Gelingt die Machtübernahme, dann - und es ist immer so - ist die neue Herrschaft bestrebt, ihre Gefolgschaft reichlich zu belohnen, um neue Machtstrukturen etablieren zu können, wodurch sich Korruption erst recht verbreitet. Nicht selten entsteht eine kleptokratische Staatsmacht, welche mit vollem Löffel aus dem staatlichen Vermögen schöpft. So war das nach der Ostöffnung in den COMECON-Ländern - und so war das auch in Österreich nach der schwarz-blauen Wende im Jahr 2000.
Oft ist Korruption auch von Staats wegen notwendig: Wenn der Staat in einzelnen Berufssegmenten versagt, wie beispielsweise seit 1989 bei der medizinischen Versorgung in Ungarn oder bei der öffentlichen Sicherheit in Bulgarien, kann Kleinkorruption systemerhaltend sein. Einzelne Sparten der Verwaltung werden dadurch aufrechterhalten, dass die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung in ihrer Korrumpierbarkeit kaum eingeschränkt werden. Bei einer etwaigen radikalen Korruptionsbekämpfung entsteht eine Art Ohnmacht, ein grenzenloses Ausgeliefertsein des Einzelnen gegenüber der staatlichen Willkür, der illegalen Gewalt und den persönlichen Schicksalsschlägen.
Fern ist die Absicht, eine Lobeshymne auf die Korruption zu singen. Korruptionsbekämpfung ist notwendig, um ein Gleichgewicht zwischen Staat und Wirtschaft herzustellen sowie die politische Integrität und Souveränität eines Landes zu schützen. Deshalb kommt der Korruptionsbekämpfung in manchen geschichtlichen Epochen eine zentrale Bedeutung zu - und wir leben in einer solchen Epoche.
Problem Beamtenabbau
Der Beamtenabbau stellt seit den 1990er Jahren in Kontinentaleuropa zweifelsohne eine der größten sozialen Änderungen der letzten 150 Jahre dar. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wurden kaum neue Positionen in der Verwaltung geschaffen. Die Rechte und Gehälter der Beschäftigten wurden eingefroren oder reduziert. Sowohl ihr Image als auch ihre Perspektiven verschlechtern sich zusehends und Beamte können ihren Kindern zu keiner adäquaten staatlichen Stelle mehr verhelfen.
In Summe kommt es zu einem Defekt der Vererbung des Status. In den Binnenländern Europas kam es in der Geschichte bei einem "Vererbungsdefekt" der Beamten immer zu einem Machtwechsel, manchmal sogar zu einer Änderung der Staatsform. Interessanterweise ist die Rolle der öffentlichen Verwaltung bei politischen Umbrüchen unerkannt geblieben.
Die neoliberale Zersetzung des bürokratischen Staates trägt nicht zur Reduzierung der Korruption bei. Im Gegenteil, sie verstärkt diese. Die bedingungslose Loyalität der öffentlichen Verwaltung zur Politik hat nämlich eine Bedingung: Die stetige Erweiterung der Verwaltung und die Absicherung der Beamten. Genau das wird durch die neoliberale ökonomische Gesinnung zunichtegemacht. Obwohl nichts, außer einige Vorurteile und manche längst widerlegte vulgärökonomische Theorien, für die Reduzierung der öffentlichen Verwaltung spricht, wird eine eifrige Jagd gegen sie betrieben. Es wird nicht wahrgenommen, dass dieser Weg zu einer politischen Systemänderung führt.
Die hochwertige kontinentale öffentliche Verwaltung wird als eine korrupte, langsame, ineffiziente und unfähige Bürokratie hingestellt. Damit legitimiert man die Umstellung der Verwaltung auf das angloamerikanische System, obwohl diese Vorwürfe gerade erst durch die Umstellung zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Systemen ist, dass in kontinentalen Ländern die private Großindustrie nicht stark genug ausgeprägt ist, um das künstlich herbeigeführte Abschwächeln der Verwaltung - im Gegensatz zu angloamerikanischen Ländern - durch die Privatwirtschaft zu kompensieren und aufzufangen.
Die Korruptionsbekämpfung verwendet derzeit nur wenige Methoden, wodurch Korruption lange thematisiert, aber nicht wirksam beseitigt werden kann:
Ein Weg ist die Lobbyarbeit für die Schaffung von gesetzlichen und organisatorischen Hürden für die Korruption. Ein anderer ist die Legalisierung der Korruption, also die Schaffung von gesetzlichen Rahmen, mit welchen die Korruption institutionalisiert und kanalisiert wird, wie beispielsweise in westlichen Ländern die ärztlichen Versorgung durch private Krankenversicherungen.
In Kontinentaleuropa ist die dritte Art, der Aufdeckerjournalismus, wegen der Abhängigkeit der Medien von staatlichen Strukturen kaum von Bedeutung. Hingegen ist die vierte Methode, die innere Revision wie der Rechnungshof, ein wichtiges Kontrollinstrument. Jedoch ist auch dieses mit Problemen behaftet. Die erzwungene Personalknappheit wird so ausgeglichen, dass auch die Zuständigkeiten beschnitten werden. Privatisierte Institutionen können nicht mehr wertrational, sondern nur formalrechtlich, vor allem nach buchhalterischen Vorschriften geprüft werden.
Deckname Compliance
Der fünfte Weg ist die Förderung der Denunziation. Strukturen und Organisationen zur Bespitzelung und zum Verrat werden errichtet. Dafür werden Decknamen wie Compliance und Whistleblowing verwendet - die private Ruchlosigkeit wird zur staatsbürgerlichen Pflicht veredelt. Diese Methode hat in der Geschichte aber noch niemals Korruption eindämmen können. Vielmehr entstanden deswegen neue konspirative Regeln, deren Festigung und Symbolbildung in weiterer Folge für die Verbreitung von Korruption sorgte.
Es gibt aber auch einen sechsten Weg, der in der Geschichte schon des Öfteren begangen wurde: die Wiederherstellung der beamteten Perspektiven, Garantien für den Beamtenwerdegang und der stetige Zuwachs an Positionen. Nachteilig dabei ist, dass mit einer erfolgreichen Rehabilitierung der Beamten das menschenverachtende strenge Vorschriftshandeln einhergeht, welches von Neuem bekämpft werden muss.
Die Unkündbarkeit der Beamten und die Aufhebung des Personalstopps sichern trotzdem in kontinentalen Ländern politische Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung - und nicht umgekehrt. Nicht ein wirtschaftlicher Aufschwung bedingt die Erweiterung der öffentlichen Verwaltung, sondern erst wenn die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung ihrer Perspektiven sicher sind, entsteht ein wirtschaftlicher Aufschwung. Und das ist zugleich die gesellschaftliche Voraussetzung für einen nachhaltigen Rückgang von Korruption im Staate.
Peter D.Forgács, geboren 1959 in Budapest, ist Hungarologe, Musikwissenschafter und Soziologe (Universität Wien). Er lebt in Wien und ist u.a. als freiberuflicher Sozialwissenschafter tätig. 2016 ist
sein Buch "Der ausgelieferte Beamte - Über das Wesen der öffentlichen Verwaltung" bei Böhlau erschienen.