Aktivisten stellen sich in Ramallah gegen Nahost-Friedensgespräche.
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Ramallah. "Wir wollen keine Verhandlungen", rief die palästinensische Frauenrechtsaktivistin Hanin bei einem Protest am Sonntag in Ramallah. Einige hundert Meter vor der Muqataa, dem Sitz von Präsident Mahmud Abbas, wurde der Protest von Spezialeinheiten der Polizei empfangen. Mit dem Knüppel schlug ihr ein Polizist ein großes Banner aus der Hand. "Zuerst haben sie uns mit den Schutzschildern weggedrängt", sagt die 29-Jährige. Als ein Freund niedergeprügelt wurde, habe sie zu schreien begonnen. "Dann haben sie auf mich eingeschlagen. Zuerst auf meinen Körper, zum Schluss auf den Kopf." Später sind die Polizisten den Verletzten ins Krankenhaus gefolgt. "Sie haben dem Personal verboten, uns zu behandeln, solange wir unsere Ausweise nicht herzeigen", sagt Hanin. "Wir sind es gewohnt, von der Polizei gestoppt zu werden. Aber das war anders. Ich glaube sie hatten Anweisungen uns zu schlagen."
Das brutale Vorgehen der von USA und EU trainierten und mitfinanzierten Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde wirft Licht auf einen politischen Machtkampf im Schatten der laufenden Friedensgespräche. Die Demonstration am Sonntag hatte die Volksfront zur Befreiung Palästinas organisiert. Als marxistische Alternative zur palästinensischen Nationalbewegung lehnte die Volksfront, kurz PFLP, schon in den 90er-Jahren den Friedensprozess ab, ihr militärischer Flügel entführte Flugzeuge, verübte Attentate auf israelische Politiker, und Anschläge auf Zivilisten. Ihr Fokus liegt auch heute noch auf Befreiung durch Widerstand, anstatt "Kooperation mit der zionistischen Besatzung". Dessen beschuldigte die PFLP in ihrem Aufruf zum Protest nun die Palästinensische Autonomiebehörde.
"Zu billig verkauft"
Die Volksfront lehne die Verhandlungen deshalb ab, weil sie unter der Schirmherrschaft der USA stehen, erklärt PFLP-Vizegeneralsekretärin Khalida Jarrar. "Die USA sind nicht neutral, sie halten zu Israel. Solche Verhandlungen laufen seit zwanzig Jahren ohne Erfolg. Israel bekommt so nur mehr Zeit, um Siedlungen zu bauen." Dass die israelische Regierung diese Woche die Freilassung von 104 palästinensischen Gefangenen genehmigte, sei zu wenig. Auch der Ehemann von Hanin, ein Mitglied der PFLP, sitzt weiterhin im israelischen Gefängnis, wie derzeit rund 4820 Palästinenser. Für den Bruder von Hanin, Wade Nassar, hat sich Mahmud Abbas "zu billig" an Israel verkauft. Die Menschen auf der Straße wollen klare Verbesserungen sehen, und keine symbolischen Gesten. Zermürbend sei neben Israels Besatzung vor allem auch die Wirtschaftslage. In seinem Geschäft für Haushaltsartikel in Ramallah beschäftigt Nassar 15 Mitarbeiter. Sie seien ein guter Querschnitt der palästinensischen Jugend.
"Zur Monatsmitte hört das Leben für sie auf. Jeder hat Schulden", sagt der 28-Jährige. Er selbst habe Glück gehabt: das seit 1950 bestehende Geschäft in der Stadtmitte von Ramallah hat er von seinem Großvater geerbt. Die junge Bevölkerung im Westjordanland sei allerdings vom "alltäglichen Leiden und Überleben" geprägt. Das mache die Menschen passiv und mundtot. Und es stärkt die Kontrolle der Autonomiebehörde, die im Westjordanland rund 30.000 Sicherheitsbeamte beschäftigt. Sollte Mahmud Abbas in Washington jedoch schmerzhafte Kompromisse eingehen und trotzdem scheitern, könnte sich die frustrierte Masse bald gegen die eigene Führung auf die Straße bewegen, so Nassar. Auch für den palästinensischen Aktivisten Abdallah Abu Rahme markieren die derzeitigen Gespräche einen kritischen Wendepunkt. "Sollten diese Verhandlungen schief laufen, ist es Zeit, all das zu beenden", sagt er, und meint damit sowohl die Verhandlungsstrategie, als auch die Autonomiebehörde selbst, die ursprünglich als Übergangsorgan den Weg zum unabhängigen Palästinenserstaat ebnen sollte.
Alternativen zu einem baldigen Friedensvertrag sieht er nur zwei: der von ihm vertretene gewaltfreie Widerstand, oder jener mit Waffen. Seit acht Jahren führt Abu Rahme in seinem Heimatdorf Bil’in eine Widerstandsbewegung gegen die illegale Landnahme durch Siedlungen und die israelische Sperrmauer. Sein Resumee nach 20 Jahren "Friedensprozess": "Unser Land wird immer weniger, Siedlungen immer mehr. Die Zeit läuft uns davon."