Der weißrussische Politologe Arseni Sivitski hält ein Szenario wie in der Ukraine auch in Belarus für möglich. | Russland reagiere auf seinen schwindenden Einfluss mit militärpolitischen Interventionen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung":Herr Sivitski, die Sicherheitslage in Osteuropa ist fragil. Die Ukraine ist von einem Frieden immer noch weit entfernt. Auch Weißrussland ist ein Land, das zwischen Russland und der EU liegt - und das noch dazu "russifizierter" als die Ukraine ist. Ist ein Szenario wie in der Ukraine in Weißrussland möglich - oder ist das Panikmache?Arseni Sivitski: Es gibt natürlich genug Analytiker in Weißrussland, die ein solches Szenario für reine Spekulation halten. Unser Institut gehört da aber nicht dazu. Wir halten ein russisches Eingreifen in Belarus in der Tat für realistisch.
Warum?
In der Ukraine hat der Kreml gemerkt, dass ein Land dabei ist, aus seiner Einflusssphäre wegzubrechen. Russlands Präsident Wladimir Putin reagierte darauf mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung des Ostens der Ukraine. Ich denke, das kann auch in anderen postsowjetischen Ländern passieren - überall dort, wo Russland fühlt, dass es Einfluss verliert, dass sich jemand seinem Einflussbereich entzieht. Und das ist derzeit in Weißrussland der Fall. Die Beziehungen zwischen Minsk und Brüssel, auch zwischen Minsk und Washington normalisieren sich. Belarus pflegt außerdem eine strategische Partnerschaft mit China. Moskau sieht das als Bedrohung an. Unter anderem deshalb möchte Russland, dass Belarus der Stationierung einer russischen Luftwaffenbasis auf weißrussischem Gebiet zustimmt.
Aber ist Belarus mit Russland nicht ohnedies vielfach verknüpft - etwa über die Eurasische Union, einem Moskauer Integrationsprojekt? Hat der Kreml wirklich ein Abdriften Weißrusslands zu befürchten?
Seit der Ukraine-Krise und ihren Folgen hat Moskau nicht mehr dieselben Möglichkeiten wie vorher. Russland hat heute nicht mehr die Ressourcen, Belarus in seiner Einflusssphäre zu halten - seine Möglichkeiten, über die Wirtschaft Einfluss auszuüben, etwa Kredite zu geben, sind deutlich geschrumpft. Also konzentriert man sich im Kreml auf direkte militärpolitische Einflussnahme in Gebieten, in denen man Macht ausüben will.
Welche Gebiete sind das? Etwa die Länder der früheren Sowjetunion?
Es gibt eine "strategische Verteidigungslinie", wie man in Moskau sagt, die im Westen vom russischen Kaliningrad über Belarus, die Ukraine und Transnistrien bis zur Krim und - im Kaukasus - Abchasien und Südossetien reicht.
Sind die baltischen Länder da mit eingeschlossen?
Das ist die Frage. Amerikanische Analytiker haben davon gesprochen, dass russische Soldaten bereits für ein kriegerisches Szenario in den baltischen Ländern proben. Das Pentagon hat darauf reagiert und plant neue Verteidigungsszenarien für das Baltikum. Deshalb glaube ich nicht, dass die baltischen Staaten jenseits dieser russischen Linie liegen.
Sie haben von China als strategischem Partner Weißrusslands gesprochen - tatsächlich fällt auf, dass Peking in Belarus massiv investiert. Warum sucht sich China gerade Weißrussland aus?
China realisiert zurzeit ein gewaltiges globales Wirtschaftsprojekt, das Projekt einer neuen Seidenstraße. Ursprünglich hätte dabei die Ukraine das westliche Tor dieser Seidenstraße werden sollen, das Tor nach Europa. Auf der Krim - damals noch ukrainisch - hatte China einen modernen Hafen und einen großen Industriepark geplant. Zweck dieser Seidenstraße war und ist es, einen besseren Zugang zu Märkten in Europa zu gewinnen. Den Chinesen war klar: Die Ukraine bereitet sich auf eine EU-Assoziierung vor, öffnet ihre Märkte und China kann dort seine Waren durchleiten und verkaufen. Dann kam die Krim-Krise und die Destabilisierung des Ostens der Ukraine. China hat daraufhin viele seiner Projekte in der Ukraine aufgegeben oder eingefroren und investiert jetzt in Belarus.
Ist das für Russland nicht wünschenswert, wenn ein Land seiner Eurasischen Union mit dem Freund aus Peking Geschäfte macht?
Nun, in Moskau wird das vor allem als Verlust von Einfluss gesehen - was es ja auch ist. Die Möglichkeiten Russlands, die Situation zu kontrollieren, verringern sich. Wenn sich dann noch die Beziehungen Weißrusslands zum Westen normalisieren und Minsk einen neuen Kredit vom Internationalen Währungsfonds bekommt, dann steigt bei den Hardlinern innerhalb der russischen Führung die Nervosität. Deshalb will man den eigenen Einflussbereich sichern - und weil die wirtschaftlichen Mittel dazu immer begrenzter werden, dann eben militärisch, über die Luftwaffenbasis.
Nun scheint man in Belarus aber nur mäßig erfreut über diese Basis zu sein . . .
In Umfragen sind 45 Prozent der Weißrussen dagegen. Es gab Demonstrationen der Opposition gegen die Basis. Auch Präsident Alexander Lukaschenko erteilte dem russischen Wunsch eine Absage. Kein Wunder: Von Bobruisk, wo die Flieger stationiert werden sollen, bis Kiew sind es nur rund 300 Kilometer. Westliche Analytiker sehen in der Basis eine Gefahr für die Sicherheit der Ukraine und der baltischen Staaten - also auch für die Nato. Würde Belarus dem Projekt zustimmen, würde das von Kiew wohl als unfreundlicher Akt interpretiert werden. Und die Beziehungen zur Ukraine sind vor dem Hintergrund der Vermittlerrolle Weißrusslands im Ukraine-Konflikt sehr wichtig - auch für Lukaschenko: Sein Status als Vermittler, als Gastgeber der Minsker Gespräche hat ihm sehr genutzt und hat die geopolitischen und ökonomischen Möglichkeiten Weißrusslands deutlich erweitert. Und dann ist da noch etwas: Ein Ja zur Luftwaffenbasis wäre eine Parteinahme Weißrusslands in dem neuen Kalten Krieg für die russische Seite. Das will man in Minsk vermeiden. Lukaschenko legt Wert auf die Neutralität des Landes in militärpolitischen Fragen.
Aber ist diese Neutralität für Weißrussland überhaupt möglich? Weißrussland und Russland halten schließlich immer wieder gemeinsame Manöver ab.
Natürlich sind Russland und Belarus Verbündete. Aber weder im russisch-ukrainischen noch im russisch-georgischen Konflikt wurden wir in irgendeiner Weise konsultiert. Daher haben wir auch jedes Recht auf eine eigenständige Position in militärpolitischen Fragen. Bei der Entscheidung über die Luftwaffenbasis geht es um sehr viel. Es ist keine Entscheidung darüber, ob Russland eine konkrete Basis errichtet oder nicht, sondern ob es allgemein die Erlaubnis bekommt, auf dem Territorium von Belarus solche Stützpunkte zu errichten. Wir würden also ein gutes Stück unserer Souveränität verlieren.
Bis jetzt hat sich Weißrussland den russischen Wünschen gegenüber taub gestellt. Was passiert, wenn sich Belarus weiter verweigert?
Spätestens wenn sich Minsk der EU und der Nato annähert, ist für Moskau die rote Linie überschritten. Aber auch so ist bei einer anhaltenden Unbotmäßigkeit Weißrusslands ein Szenario wie jenes auf der Krim prinzipiell möglich. In Russland sind Publikationen erschienen, die davon sprechen, dass in Polen und der Ukraine radikale weißrussische Nationalisten vom Westen für ein Maidan-Szenario ausgebildet werden. Das ist zwar Humbug, könnte aber der Vorbereitung einer ähnlichen Intervention wie in der Ukraine dienen. Eine andere, weniger radikale Variante für Russland wäre, dass man Lukaschenko durch eine leichter lenkbare Figur aus der Nomenklatur ersetzt.
Ist das denn möglich? Von außen betrachtet scheint Lukaschenko ja alles unter Kontrolle zu haben, und das schon mehr als 20 Jahre lang.
Ich würde sagen, dass das möglich ist. Weißrussische Geheimdienstler werden ja auch in Moskau geschult, da gibt es gute Beziehungen, es wird auch Druck ausgeübt. Es fehlt außerdem nicht an prominenten Kandidaten in der Nomenklatura, die gerne Präsident werden würden.
Zur Person
Arseni Sivitski
ist Direktor des Zentrums für strategische und außenpolitische Forschungen in Minsk. Der weißrussische Think Tank, ein nach eigenen Angaben unabhängiges Institut, beschäftigt sich intensiv mit Fragen der internationalen Sicherheitspolitik sowie mit der eurasischen und europäischen Integration.