Die Ratifizierung der EU-Verfassung ist verschoben. Der Finanzgipfel ist gescheitert. Agrarsubventionen und Erweiterung sind höchst umstritten. Die Krise in der Europäischen Union ist auch in Brüssel nicht mehr wegzureden. Doch Lösungsansätze sind derzeit kaum in Sicht.
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Der polnische Installateur macht Furore. Monatelang galt er in Frankreich als Symbol für die Verdrängung am Arbeitsmarkt durch "billige Kräfte aus dem Osten". Das Negativimage will die polnische Organisation für Tourismus nun zu Werbezwecken umwandeln. "Ich bleibe in Polen - kommt zahlreich", lockt ein blonder Jüngling in Arbeitsmontur via Homepage des Tourismusamtes. Und der Zuspruch ist enorm - zumindest auf der Website.
Mit Humor lässt sich allerdings nicht allen Ängsten begegnen. Die Furcht europäischer Bürgerinnen und Bürger vor Wettbewerb und Erweiterung, das Unbehagen über in Brüssel gefällte Entscheidungen, die Sorge um Arbeitsplätze und Einkommen lassen in vielen Ländern die Skepsis gegenüber der EU wachsen. Auch wenn all dies bei den Referenden über die europäische Verfassung nicht zur Debatte stand - die Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden ist dennoch auch auf diese Ängste zurückzuführen. Dass sich die EU-Staatsund Regierungschefs nicht auf den Finanzrahmen einigen konnten, ist dabei alles andere als vertrauensbildend.
Schon warnt der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder vor einem Zerfall der EU. Dabei sei Europa die Antwort auf Krieg und Vernichtung sowie auf die Herausforderungen der Globalisierung gewesen. Nun befinde sich die Europäische Union "in einer ernsten Krise". Es drehe sich alles um die Frage: "Welches Europa wollen wir?"
Eine politische Union oder eine Freihandelszone: Die Diskussion, in welche Richtung sich die EU bewegen soll, ist lange Zeit vernachlässigt worden. Und auch wenn dem britischen Premier Tony Blair von einigen Seiten die Schuld am Scheitern des Finanzgipfels gegeben wird, so war doch er es, der die Debatte voll in Gang gebracht hat.
"Wir müssen uns die Zeit nehmen, um über diese fundamentalen Dinge zu reden - damit das Bewusstsein entsteht, dass die europäischen Entscheidungsträger an Lösungen interessiert sind", kommentiert der ehemalige Agrarkommissar Franz Fischler. Blair hat zumindest ein Modell skizziert: Für Großbritannien ist die EU in erster Linie ein Markt, unter Umständen auch dazu gut, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu exportieren. Einen EU-Beitritt der Türkei befürwortet der Premier aber nicht zuletzt deswegen, weil danach die Vertiefung der Union umso schwieriger würde.
Auch Frankreichs Präsident Jacques Chirac verfolgt ein Konzept. Doch seine Idee von Kerneuropa ist die eines exklusiven Klubs - an der deutsch-französischen Achse entlang -, der sich seine eigenen Institutionen schafft.
Gerhard Schröder wiederum hat eine andere Antwort auf die Krise der EU parat. Auch auf europäischer Ebene gelte es, ein seit sechs Jahrzehnten entwickeltes und bewährtes Gesellschaftsund Sozialmodell zu erhalten. Dies sei möglich "nicht durch Nivellierung nach unten in einem großen Binnenmarkt, sondern durch politische Gestaltung".
Franz Fischler entwickelt das Bild Helmut Kohls vom "Haus Europa" weiter. Die Eigentümer und Bewohner fühlen sich in dem Gebäude nicht mehr so recht wohl. Einige wünschen sich eine Hausverwaltung, die sich um die Parteien kümmert, andere wollen ihr eigenes Haus beziehen, wo sie das Sagen haben.
Seine Vorstellungen, was zu tun ist, hat Tony Blair noch am deutlichsten dargestellt. Ein präziser Gegenentwurf liegt noch nicht auf dem Tisch.